Werte, Traditionen, Umgangsformen – wovon reden wir? (1)

Teil 1: Wie konservativ darf der Wertekanon sein, auf den wir unsere Erziehung gründen?

 

Lieber Karl,

du hast natürlich längst gemerkt, dass ich über manche deiner Stichworte hinweggehe, als hätte ich sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Hab ich aber. Und hier kommen in geballter Ladung meine Anmerkungen. Oder sollte ich lieber sagen: Hier kommt meine Widerrede?

„Keine Widerrede!“, höre ich meinen Vater donnern, wenn ihn seine drei ungehorsamen Töchter mal wieder in Rage gebracht hatten. Manchmal holte er dann auch den Teppichklopfer aus der Besenkammer…

„Ein Klaps auf den Po hat noch keinem Kind geschadet“, lautete damals ein gängiger Kommentar, mit dem viele Väter eine gängige Erziehungsmethode rechtfertigten.

Wir drei Mädchen bekamen später noch zwei weitere Geschwister, die mit dem berüchtigten Teppichklopfer nie Bekanntschaft gemacht haben. Dafür aber mit einer Anekdote, die mein Vater nicht nur einmal zum besten gab:

An allen drei Stadttoren von Jüterbog hängt bis heute an einer Eisenkette eine riesige Keule und daneben eine hölzerne Tafel, auf der geschrieben steht:

„Wer seinen Kindern gibt das Brot / und leidet nachmals selber Not,

den schlage man mit der Keule tot.“

Der Legende nach hat ein reicher Tuchmacher seine drei undankbaren und gierigen Söhne, die ihn schon zu Lebzeiten geschröpft hatten, damit bestraft, dass sie nach seinem Tode anstelle des erwarteten Erbes nur eine Kiste mit dieser Keule und dem Spruch vorfanden. An die Stadt ging die Anweisung, Keule und Spruch zur Warnung an allen Stadttoren anzubringen.

Mein Vater war überhaupt ein Freund immer wiederkehrender Geschichten, die nun fest im familiären Gedächtnis abgespeichert sind, ebenso wie die Rituale, die er von seiner neuapostolischen Familie übernommen oder neu eingeführt hatte. Oder die er verwarf, wie in der Mitte seines Lebens die Prügelstrafe.

Natürlich brauchen Kinder Rituale, klare Ansagen, verlässliche Regeln und wenn nötig auch angemessene Strafen. Am besten erzieht, sagst du, „das, was praktisch üblich, Sitte und Brauch ist“. Das Problem ist nur: Was lassen wir als das praktisch Übliche gelten, auf welche Regeln und Rituale wollen wir uns beziehen? Auf die folgenden doch sicher nicht.

In einem Schlagertext aus unserer Jugendzeit heißt es:

„Ich sah ein schönes Fräulein im letzten Autobus. / Sie hat mir so gefallen, drum gab ich ihr ’nen Kuss …“     (….)

„Jetzt ist das schöne Fräulein schon lange meine Braut. / Und wenn die Eltern es erlauben, werden wir getraut…“

50 Jahre später haben sich die Aussagen des Textes überlebt: Die Anrede „Fräulein“ ist obsolet, ein junger Mann würde sich unter Umständen strafbar machen, wenn er eine Fremde ungefragt küssen würde, und die Eltern müssen nicht mehr um Erlaubnis gefragt werden, wenn ihre Kinder heiraten wollen. Und apropos Heiraten: Auf dem Schulhof war zu unserer Unterstufenzeit noch das Kreisspiel „47 Bauernmädchen“ beliebt, in dem sich blitzschnell Paare finden mussten, wobei immer ein Mädchen übrig blieb, die dann verspottet wurde:

„Da steht sie nun und hat kein‘ Mann und ärgert sich zu Tode.

Ein andermal pass besser auf, geh nach der deutschen Mode!“

Und noch ein Beispiel von Damals: Im Handarbeitsunterricht stand auf diesen hölzernen Pilzen, die beim Strümpfestopfen unter die zu reparierende Stelle geschoben wurden, damit diese sich nicht zusammenziehen und einen Wulst bilden konnte:

„Wenn dich die bösen Buben locken, / bleib zu Haus und stopfe Socken.“

Auf manchen Stopfpilzen wurde außerdem mitgeteilt: „Langes Fädchen – faules Mädchen.“

Die Sprüche hatten sich schon damals überlebt, denn am Handarbeitsunterricht mussten auch die Jungen teilnehmen. Und mittlerweile macht sich in unserer Wegwerfgesellschaft kaum noch jemand die Mühe, die „Bollen“ in seinen Socken zu stopfen.

Auch viele Tischsitten von damals haben sich nicht halten können: „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.“ „Während der Mahlzeit spricht man nicht.“ „Vom Tisch aufgestanden wird erst, wenn alle fertig sind“ oder „wenn der Vater das Signal gibt.“

Ich habe ein Nachbarskind noch unter der ersten Regel leiden sehen: „Mulle“ R. ekelte sich vor fettem Schweinefleisch, wurde aber von ihrer Mutter gezwungen, alles aufzuessen. So manches Mal wurde sie am Stuhl festgebunden und zwangsgefüttert. Sie unterdrückte den Würgereflex so lange, bis sie die Erlaubnis hatte, draußen spielen zu gehen, und sich dann auf dem Hof hinter einem Holunderstrauch erbrach. Wer das Mädchen eine verzogene Göre nannte, tat ihr Unrecht. Denn wie sich später herausstellte, war sie krank. Sie litt an einer seltenen Anomalie der Fettverdauung.

Oder nimm meine Linkshändigkeit. „Gib das schöne Händchen!“, wurde ich als kleines Mädchen immer wieder aufgefordert. Dass ich nach allen Gerätschaften – Babyrassel, Löffel, Stifte, Papierschere – mit der linken Hand griff, störte meine Eltern nicht. Aber dann in der Schule wurden mir Kreide, Bleistift, Pinsel und Füller jedesmal unsanft aus der linken Hand gerissen und in die rechte – die „richtige“ – Hand gedrückt. Bis ich mich fügte, jedenfalls beim Schreiben. Meine Suppe löffle ich bis heute „mit links“ und bei den meisten Handgriffen dominiert die linke Hand.   In meiner Zeit als Lehrerin haben die Kinder, wenn wir ein Tafelbild entwickelten, öfter amüsiert ausgerufen: „Sie nehmen schon wieder beide Hände!“ Wenn ich, was selten vorkommt, eine Kleinigkeit stricke oder häkele, wird mir irritiert auf die Finger geschaut, weil ich „alles verkehrt herum“ mache.

Heute kommen neurologische und psychologische Studien zu dem Ergebnis, dass der Versuch, Menschen mit einem sehr linkslastig strukturierten Gehirn „umzudrehen“, schwere Folgen haben kann. Beim „Brain Breaking Lefthander“, um hier ausnahmsweise einen englischen Fachbegriff zu bemühen, treten nicht selten Gedächtnisprobleme, Konzentrations- und Sprachstörungen sowie Defizite in der Feinmotorik auf. Davon scheine ich verschont geblieben zu sein. Dafür aber hat mich die Rechts-Links-Schwäche voll erwischt. Bis heute muss ich mir Eselsbrücken bauen, um Rechts von Links unterscheiden zu können, z. B. fahre ich mit dem Daumen möglichst diskret über die jeweilige Handinnenfläche, um einen bestimmten Ring zu ertasten, der mir signalisiert: Hier ist rechts. Auf meine Wegbeschreibungen sollte man sich lieber nicht verlassen und mein Orientierungssinn ist eine Katastrophe.

Natürlich hast du recht, lieber Karl, wenn du sagst, dass viele Eltern und auch viele Lehrer heute viel zu schnell auf eine medizinische Untersuchung pochen, sobald das Kind durch Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten von sich reden macht. Stimmt, wenn immer nur nach Erklärungen gesucht wird, warum Kinder so sind, wie sie nun mal sind, warum man sie gewähren lassen und ihren Egoismus mit Nachsicht ertragen sollte, dann schwächt das ihre Leistungsbereitschaft und stärkt ihren empathiearmen Egoismus. Andererseits sprichst du aber über tatsächliche Erkrankungen als wären es Zimperlichkeiten, für die man kein Verständnis haben sollte. Motto: Eine verweichlichte Erziehung erzeugt bei den Zöglingen eine verweichlichte Selbstwahrnehmung; die sollen nicht jammern, sondern sich zusammenreißen. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder… – Entschuldigung, so weit würdest du natürlich nicht gehen mit deiner Hommage an deutsche Tugenden.

Um auf die angeblichen oder tatsächlichen Gründe für die Unerzogenheit und Leistungsverweigerung heutiger Schüler zurückzukommen. Eine Tagträumerin oder ein „Hans-guck-in-die Luft“ müssen nicht gleich ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) haben und ein „Friederich, arger Wüterich“ oder ein „Zappelphilipp“ müssen keine Kandidaten für ADHS (ADS plus Hyperaktivität) sein. Die Grenzen zwischen einem Kind oder auch Erwachsenen, dem Schusseligkeit, schwer verständliches Genuschel, Maulfaulheit oder eine „Sauklaue“ nachgesagt werden, und Patienten, die tatsächlich unter einer RLS (Rechtschreib-Lese-Schwäche, Legasthenie) leiden, sind fließend, ebenso wie die Grenzen zwischen Begriffsstutzigkeit beim Umgang mit Zahlen und einer echten Rechenschwäche (Dyskalkulie). Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen einer schlechten Esserin bzw. einem „Suppenkasper“ und einem Kind, das unter Anorexie (Magersucht) leidet. Und nicht jeder, bei dem sich Mäkeligkeit und Fressattacken abwechseln, hat gleich Bulimie.

Aber die Diagnose eines dieser Krankheitsbilder scheint nicht wenigen Eltern eine willkommene Erklärung für die mangelnde Leistungsbereitschaft ihrer Kinder zu sein und auf mehr Akzeptanz zu stoßen als die Aufforderung, sich intensiver um ihr sprunghaftes Schussellieschen oder ihren stundenlang daddelnden Sofaklops zu kümmern. Sie umgehen die Schuldfrage, indem sie argumentieren: Wenn das einzige Kind, in das man seine ganze Liebe und sein ganzes Geld investiert hat und von dem man ja wohl erwarten darf, dass es seinen Eltern als kleines Genie alle Ehre macht, diesem Anspruch nicht gerecht wird, dann kann es dafür nur zwei Gründe geben: Entweder ist die Schule nicht auf der Höhe der Zeit oder eine Krankheit beeinträchtigt die Entwicklungsmöglichkeiten, die das Kind eigentlich gehabt hätte.

In Auftrag gegeben werden Untersuchungen, ob bei bestimmten Schülern eine Krankheit vorliegt, aber auch von den Schulen. Bestätigt die Diagnose den Verdacht, so dient sie nicht wenigen Lehrern als Rechtfertigung, solche Schüler an spezialisierte Bildungseinrichtungen abzuschieben und damit ihre eigene permanente Überlastungssituation etwas zu entschärfen. In Schutz nehmen möchte ich hier all jene Lehrer, die sich an Brennpunktschulen mit einer geballten Ladung lernschwacher oder lernunwilliger Schüler konfrontiert sehen. Mir selbst sind persönliche Erfahrungen dieser Art zum Glück erspart geblieben, aber auch ich hätte vermutlich jede sich bietende Notbremse gezogen.

Womit noch nichts über die spezielle Situation von Schulen gesagt sein soll, in denen mehr als die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund haben. Dazu später (in Teil 2) mehr.

Kommen wir kurz auf die Tischsitten zurück. Die vorhin zweitgenannte, nämlich die Aufforderung, während der Mahlzeiten nicht zu sprechen, ist mittlerweile passé, weil sie sich als familienunfreundlich erwiesen hat, denn damit würde eine der wenigen Möglichkeiten ungenutzt bleiben, den Zusammenhalt der Familienmitglieder im gemeinsamen Erlebnis und Gespräch zu festigen. Dieses Gemeinschaftserlebnis erscheint aber nun leider durch die Unsitte bedroht, dass jeder auch bei Tisch nur auf sein Handy starrt. Hier eine neue Sitte zu etablieren, wäre sinnvoll.

Sitten und Bräuche (oder „Gebräuche“, wie es früher hieß und von meinen Kollegen aus dem Fachbereich Landes- und Kulturkunde als „Sitten und Gebrechen“ verballhornt wurde) sind zum Glück keine ein für allemal feststehenden Kulturtechniken, sondern ebenso wie Traditionen einem stetigen Wandel unterworfen. Auch die Vorstellungen davon, was „sich gehört“ und was nicht, ändern sich. (Übrigens interessant, wie wir im Deutschen immer dann auf unpersönliche Ausdrucksformen zurückgreifen, wenn wir die Akteure der Vorgänge im Hintergrund halten wollen: „es rechnet sich“, „das versteht sich von selbst“ und eben auch „das gehört sich (nicht)“.)

Natürlich gehört es sich für ein Kind nicht, einen Erwachsenen zu beschimpfen, zu bedrohen oder körperlich anzugehen. Umgekehrt gehört es sich aber auch für einen Erwachsenen nicht, mit Kindern so zu verfahren. Das heißt, in der Vergangenheit gehörte es sich durchaus, das Kind körperlich zu züchtigen. Auch demütigen durfte man es ungestraft, in die Ecke stellen, zu Stubenarrest verdonnern, für einige Stunden wegsperren, mit Strafaufgaben quälen, ein mehrtägiges Fernsehverbot – neuerdings eher Handyverbot – verhängen… Einige dieser Maßnahmen gehören bis heute zu den gebilligten oder gar empfohlenen Erziehungsverfahren (wie dein „Besinnungsraum“, eine modernisierte Variante des Karzers, quasi eine Ausnüchterungszelle für Kinder), aber eigentlich gehörten sie dringend auf den Prüfstand.

Deinen Vorschlag, lieber Karl, ungezogene Zöglinge einen „Reflexionsbogen mit immer genau denselben Punkten“ bearbeiten zu lassen, finde ich z. B. ziemlich untauglich. Weißt du, wie ich als Schülerin auf solch einen Bogen reagiert hätte? Ich hätte ihn mit den Aussagen gefüllt, von denen ich sicher war, dass man sie von mir hören wollte. Vielleicht hätte ich vorher Mitschüler, die so einen Bogen schon einmal ausfüllen mussten, nach ihren Erfahrungen befragt. Ich hätte mich in hochgestochenen Formulierungen versucht und mir eins gefeixt. Ja, eins gefeixt, da bin ich mir sicher, denn auch ich gehöre zu jener gar nicht seltenen Sorte von Lehrern, die als Schüler eine Zumutung waren und nicht vergessen haben, wie sie damals tickten. Manchmal kostete es mich bei den nachfolgenden Schülergenerationen ziemlich viel Mühe, mein geheimes Verständnis für bestimmte Disziplinlosigkeiten zu verbergen.

Wie schnell Schüler in den geisteswissenschaftlichen Fächern einen Instinkt für das, was der Lehrer hören möchte, entwickeln und ihre Aussagen entsprechend zuschneiden, habe ich spätestens in meinem ersten Jahr Schuldienst bemerkt. Dass sie damit gut durchkamen, lag auch an den Lehrern bzw. deren in der Ausbildung erworbenen – oder eben vernachlässigten – Kompetenzen. Lehrer waren es gewohnt, insbesondere bei Aufsätzen, aber auch bei anderen erörternden Texten ihren eigenen Erwartungshorizont zum Bewertungsmaßstab für die geäußerten Gedanken zu erheben. Dieser Erwartungshorizont war natürlich von den Vorgaben des Lehrplans, schulinternen Vereinbarungen und nicht zuletzt von ideologischen Implikationen beeinflusst. Schaute man sich die Korrekturzeichen und -bemerkungen vieler Kollegen an, so fiel auf, dass sie bei Rechtschreib- und Grammatikfehlern den Rotstift nur so tanzen ließen, Ausdrucksfehler schon weniger differenziert markierten und bei der Beurteilung des Inhalts oft nur relativ vage Aussagen machten bzw. auf allgemeine Floskeln zurückgriffen.

Ich habe dann in den höheren Klassen bzw. erst recht bei den Studis versucht, dieser Disproportion beizukommen, indem ich meine Aufmerksamkeit demonstrativ auf solche Passagen richtete, die ich nicht erwartet hatte bzw. die von dem Bestreben zeugten, einen eigenständigen Zugang zum Thema zu finden. Bei so manchem orthografischen Schusselfehler war ich dagegen bereit, auch mal ein Auge zuzudrücken, zumal ich in Veranstaltungen der Lehrerweiterbildung zur Kenntnis nehmen musste, dass die Rechtschreibsicherheit mancher Deutschlehrer durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben war.

Dass ich bei Aufsätzen die eigenständige Herangehensweise besonders würdigte, rief allerdings auch einige Eltern auf den Plan, die sich darüber beschwerten, dass ich mich bei der Bewertung nicht damit zufrieden gab, die besprochenen, stichpunktartig an der Tafel festgehaltenen Schwerpunkte im Aufsatz wiederzufinden, sondern auch Aussagen positiv bewertete, die sich einzelne Schüler „aus den Fingern gesogen hatten“. Originalton einer Mutter: „Da kann meine Tochter ja lernen, soviel sie will, aber wie soll sie denn etwas riechen, das sie nicht mitgeschrieben hat?“

Apropos Lehrerweiterbildung. Ich war mehrmals in solchen Kursen tätig und habe Lehrer am Anfang als ein heikles Publikum erlebt. Sie warteten regelrecht darauf, einen Anlass zu finden, um mir zu signalisieren, dass sie von einer auf Wissenschaft getrimmten Theoretikerin eigentlich nichts für ihre Praxis Verwertbares lernen konnten. Meinen ersten Vortrag glaubte ich geschickt eingeleitet zu haben mit dem Satz: „Ich begann meine Laufbahn als Lehrerin an einer Dorfschule.“ Ich merkte sofort, dass dieser Satz gar nicht gut ankam. Die Blicke meiner Zuhörer sprachen Bände: Von ‚Willst dich wohl anbiedern?‘ bis ‚Schulflüchterinnen wie dich können wir nicht ernst nehmen‘ war alles dabei. Später legte ich meine Vorträge so an, dass sich die Kollegen ehrlich um Rat gefragt fühlten, und ließ viel Raum für eine gemeinsame Manöverkritik der Veranstaltung.

Übrigens, Lehrer in Weiterbildungskursen, zumal wenn diese in speziellen Einrichtungen mit Internatsanbindung stattfinden, werden im Handumdrehen zu Schülern. In der Warteschlange zur Essensausgabe, während der Pausen auf den Gängen oder im Park, bei der spontanen Grüppchenbildung, beim Zusammenhocken nach dem Abendessen schlüpfen sie unversehens in die Rollen, die sie schon zu ihrer Schulzeit innehatten. Da gibt es die Wiederaufestehung des Pausenclowns, der Klassenbesten, des Mauerblümchens, des Klassensprechers, des angesagtesten Mädchens, des begehrtesten Jungen, des notorischen Außenseiters und so weiter…

Zurück zu dem, was „sich nicht gehört“ und durch geeignete Maßnahmen aberzogen werden sollte. Ein Grundproblem deiner Überlegungen zu einer wirksamen und konsequenten Erziehung, lieber Karl, besteht darin, dass du eine scharfe Trennlinie zwischen Erwachsenen und Kindern ziehst, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Bestimmern und Gehorchern. Diese Trennlinie ist in Wirklichkeit aber eine breite Zone unterschiedlicher Übergänge. Da gibt es frühreife Kinder und Spätentwickler, da gibt es Kinder, denen man umständehalber Erwachsenenqualitäten abverlangt. Da gibt es unreife und kindische Erwachsene ebenso wie Erwachsene, die sich eine gesunde Kindlichkeit bewahrt haben. Da werden Erwachsene zu Lernenden und Kinder zu Lehrenden. Dies alles zu akzeptieren erfordert von den Erwachsenen ein hohes Maß an Flexibilität, Demut und Selbsterkenntnis. Manchem Pädagogen geht es aber letzten Endes nicht darum, sein Talent im Bilden und Erziehen auszuleben, sondern seine Lust am Dominieren und Reglementieren. Und ein bisschen gilt mein Augenzwinkern jetzt auch dir, lieber Karl.

Schon der olle Knigge war darüber betrübt, dass man sein Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ missverstand, indem man es nur als eine Sammlung von Benimmregeln las, die seinen Landsleuten beigebogen werden sollten. Aber davon und von einigen weiteren Punkten mehr im 2. Teil.

2 Kommentare zu “Werte, Traditionen, Umgangsformen – wovon reden wir? (1)”

  1. Karl sagt:

    Liebe Meta, ich bin erst einmal beruhigt:

    Deine Reflexe funktionieren noch.

    Ich befürchtete schon, sie könnten durch Deinen Sturz vom Bücherregal Schaden genommen haben. Zum Glück nicht. Aus dem „Besinnungsraum“ wird schnurstracks der „Karzer“. Das ist ein gutes Beispiel für einen reflektorischen – oder besser: reflexhaften – Kurz-Schluss im Denken eines „guten Menschen“ und Pädagogen. Die Verballhornung des „Gutmenschen“, der glaubt, differenziert zu denken, und dabei doch immer nur wieder das bewährt Richtige – seit der Aufklärung Richtige – wiederholt, ist schon abgenutzt, aber mir fällt jetzt zur Beschreibung Deiner Differenziertheiten nichts Besseres ein.

    Oder doch: Olaf Scholz. Das ist der Mann, der ewig lächelnd uns geduldig erklärt, wieso alles, was ist, so sein muss und bald noch besser wird. (In Wirklichkeit geht es steil bergab mit Deutschland wegen einer Wirtschafts- und „Erziehungspolitik“, die nur einem emsig folgen, nämlich dem Wunschdenken abgehobener Büroträumer.) Ich halte Dich in weiten Teilen für den Olaf Scholz dieser Seite, liebe Meta. Aber immerhin, freundlich seid ihr beide. Ich hoffe, Ihr bleibt es.

    Du schreibst so viel, dass ich immer wieder vergesse, wo und wie ich weiter einhaken wollte. Also drucke ich Deinen Beitrag erst einmal aus, um dann nach bewährter Manier Schritt für Schritt Stellung zu nehmen.

    Da alles, wie wir beide wissen, zugleich richtig und falsch ist, es fragt sich bloß, in welcher Beziehung es mehr richtig als falsch ist und umgedreht, greife ich zuerst die Teile Deiner Gedanken auf, wo ich Dir zustimmen kann. (So sollten Menschen generell bei ihrer Kommunikation verfahren, wenn sie letztendlich und tatsächlich doch unterschiedliche Positionen vertreten.)

    1. Also Deinen Vater möchte ich unbedingt noch einmal kennenlernen, bevor er diese Welt verlässt. Ein wahrer Philosoph, der dann auch noch in der Lage war, sein Denken fortzuentwickeln. Herrlich: „Wer seinen Kindern gibt das Brot / und leidet nachmals selber Not, den schlage man mit der Keule tot.“ Dieses Denken ging also schon zu seiner Zeit und lange davor um. Ich denke, heute ist es noch mehr verbreitet.

    Auch „herrlich“, diesmal in Anführungszeichen, finde ich das „überdialektische“ (da gibt es ein Wort, das mir nicht einfällt) Aus-den-Angeln-Heben jeder klaren pädagogischen Ansage. Ja, wer sagt uns denn, „was praktisch üblich, Sitte und Brauch ist“. Keiner! Also brauchen wir erst gar nicht mit Sitten und Bräuchen bei der Erziehung anzufangen. Das ist doch der – zumindest: ein – Krebsschaden bei der Erziehung, dass Eltern und Pädagogen kein sicheres „Bauchgefühl“ mehr haben, was würdig ist, eingeübt und ritualisiert zu werden.

    Ja, ja, alles entwickelt sich, auch das Flugwesen. Es gibt keine Fräuleins mehr und die Eltern werden vor der Hochzeit nicht um Erlaubnis gefragt. Das hat doch keiner bezweifelt, ich schon gar nicht. Aber erstens ist es, zumindest bei der Erziehung, besser, etwas nicht ganz Falsches (und auch nicht ganz Richtiges) dann wenigstens „richtig“, also entschlossen und mutig zu tun, anstatt verunsichert auf der Stelle zu treten. Das ist der Modus der Gegenwart: Unentschlossenheit, Ängstlichkeit, Zauderlichkeit. Richtig ist, vor dem Handeln erst einmal in Ruhe, so weit das möglich ist, einen Überblick zu gewinnen und sich mit anderen Erziehenden abzustimmen, aber dann muss es richtig losgehen, mutig und stark auf der Grundlage von Optimismus und Wohlgesonnen-Sein.

    Zweitens gibt es auch „ewige Werte“, die nichts wert sind, wenn sie nicht in praktischen Umgangsformen, die zu Traditionen gerinnen, „operationalisiert“ werden: So ein Wert ist: Wer vorher da war, hat Vorrechte, er hat die Voraussetzungen geschaffen, dass die, die nach ihm kommen, das Leben bewältigen können. Deswegen ist es ein Gebot in der Bibel, dass Kinder ihre Eltern ehren sollen. Dass die, die noch nicht auf der Welt waren, dort auch nichts falsch machen, zum Beispiel Kriege anzetteln konnten, ist nicht ihr Verdienst, sondern die „Gnade der noch nicht stattgefundenen Geburt“. Es gibt sie, hierarchische Reihenfolgen, und sie sind wichtig für Strukturen des Lebens, die ihm Profil geben, damit Menschen nicht ins Rutschen kommen. „Operationalisiert“ zum Beispiel: Begegnen sich zwei Menschen, die sich entweder kennen oder in einem „definierten“ Gebiet zum Beispiel dem einer Dorfgemeinde aufeinandertreffen, grüßt der Jüngere – in der Regel, die Ausnahmen haben kann – den Älteren zuerst.

    Ein anderer ewiger Wert: Wir hören uns zu. „Operationalisiert“: Mund halten, wenn der Andere redet und die Ohren spitzen. Ein Junger muss diese Kunst ganz mühsam lernen, denn seine Lebensgeister sind frisch, im direkten Sinne des Wortes: „vorlaut“ – wie du es ausgesprochen warst und unter uns gesagt, zum Teil immer noch bist, weil wir – alle – an unseren Wesensarten zwar arbeiten können, sie kultivieren und qualifizieren, aber wohl kaum gänzlich umdrehen, es sei denn, wir haben extrem intensive Lebenserfahrungen gesammelt, meistens wohl negative, wurden also auf schlimmste Weise traumatisiert (was uns beiden zum Glück wohl erspart blieb).

    Das muss eingeübt werden, freundlich, humorvoll, optimistisch, von mehreren wichtigen Bezugspersonen der Kinder zugleich (aber jeder auf seine eigene Weise, wie ich es schon mehrfach sagte). Das Leben könnte schön sein, dass es eine Freude ist, hinauszugehen, weil es dort – vielleicht gar auch in der Schule – charmante Menschen gibt, hilfsbereit und freundlich. Das müssen nur genug direkt und indirekt Erziehende wollen und für möglich halten und nicht herummäkeln, dass dieser Brauch veraltet sein könnte.

    Ein Gegenbeispiel von Dir kann ich nicht nachvollziehen: Kein normaler Mensch hat jemals verlangt, auch zur Kaiserzeit nicht, dass Kinder fettiges Fleisch aufessen müssen. Wer das verlangt hat, war schon immer charakterlich ungeeignet zur Erziehung. Dass aufgegessen werden muss (anderes als fettiges Fleisch), ist tatsächlich veraltet. Aber dazu braucht es das Pendant: Du bleibst sitzen, bis alle fertig sind oder Mutter bzw. Vater dir erlaubt haben, aufzustehen. Das ist keinesfalls veraltet, sondern dient dem Einüben von Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit.

    Ich komme gerade von einem langen „Väter-Wochenende“: Meine Söhne und ich haben Zeit mit ihren Kindern, meinen Enkeln verbracht. Der eine Enkel ist sehr mäklig, ein dürrer „Hecht“. Er isst nicht „ordentlich“ in Ruhe und mit Bedacht. Er will schnell immer wieder aufstehen. Nach kurzer Zeit war er fertig, hatte angeblich keinen Hunger mehr. Er musste sitzen bleiben, schließlich ist er uns wichtig, schließlich wollen wir ihn bei uns haben, in unsere Gespräche einbeziehen, die selbstverständlich beim Essen und während des Essens stattfinden (nur nicht mit vollem Mund). Und beinahe hätte er doch noch weiter gegessen, weil er ja sowieso sitzen bleiben musste, aber der Schlawiner hatte beim gemeinsamen Einkauf Chips eingepackt und über die machte er sich her, nachdem er aufstehen durfte, ehe wir uns versehen hatten.

    Man lernt auch als Großvater nie aus: Die Regel, dass Genussmittel wie Chips oder Schokolade nur nach vorheriger Erlaubnis genommen werden dürfen (Ausnahme: persönliche Geschenke zum Beispiel zum Geburtstag, aber auch dann kann eine ein-, zweistündige Sperre nach und vor den Hauptmahlzeiten gelten), musste wieder neu bekräftigt werden. Strukturen und Profile fahren sich im Leben schnell ab, sie müssen rechtzeitig erneuert werden.

    2. Dank der stupiden Rückständigkeit in Bezug auf „linke Hand – rechte Hand“ in Deiner Kindheit, verfügst Du heute über beide Hände gleichermaßen gut. Das ist doch ein Plus, sofern Dir die rechte Hand maßvoll und nicht gewalttätig antrainiert wurde.

    3. Deine Kritik am Reflexionsbogen kann ich nicht nachvollziehen. Die Fragen müssen möglichst genau, auf die konkrete Situation bezogen, beantwortet werden. Da nutzen keine vorüberlegten „hochgestochenen“ Formulierungen, die immer wieder zur Anwendung kommen, und außerdem denke ich, dass Du zu sehr von Dir, Deinem „vorlauten“ Wesen ausgehst, das nach immer neuen geistigen Herausforderungen giert. Für eine Mehrzahl der Schüler heute ist es viel zu anstrengend, zu überlegen, was der Lehrer hören will. Das wäre ja schon der halbe Weg zur Einsicht, auch wenn sie noch geheuchelt ist, aber immerhin würde sich ein solcher Schüler erst einmal einfühlen in das, was der Lehrer erwartet. Das widerspricht dem autistischen Geist unserer Zeit. Die meisten sind vollauf damit ausgelastet, sich in das einzufühlen, was sie selbst wollen, und das zu vertiefen.

    Ich schaffe es nicht mehr, auf weitere Punkte einzugehen. Es wird zu viel.

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