Zwei Punkte hatte ich dazu in meinem letzten Beitrag schon angeführt. Beim 2. Punkt ging es um Raik. Er hatte alle seine Sachen vom Tisch gewischt und die Füße auf den Tisch gelegt, nachdem er seinen Lehrer als „du Arschloch!“ tituliert hatte.
In Deutschland ist ja die Pubertät eine beliebte Erklärung eines solchen Verhaltens. Schon in der 4. Klasse? Auch Herr Möller zieht die „Vorpubertät“ als mögliche Ursache in Betracht. Und Raik ist ja auch zwei Jahre älter, als er es in dieser Klassenstufe sein sollte. Für mich sind das alles Ablenkungen, Nebenkriegsschauplätze, von dem, worin das generelle Problem besteht. Das persönliche Ich mit seinen pubertären und anderen Besonderheiten wird zum Ausgangs- und Endpunkt der Pädagogik gemacht. Es müssten aber die Werte, die Strukturen, Bräuche und Umgangsformen der wichtigsten Gemeinschaften sein, Familie und Schule, denen es angehört.
„Noch in jüngster Zeit gab es überall dort keine ‚Pubertätsprobleme‘, wo einheitliche und festumrissene Altersnormen existierten. Ihre Einhaltung galt als Selbstverständlichkeit, ohne dass diese überkommenen Verhaltenserwartungen den Beteiligten bewusst waren. In österreichischen Alpentälern galten Heranwachsende gemäß ihrer Altersstufe als ‚Fatschenpopperl‘, ‚Umwerker‘, ‚Umhauser‘, ‚Fratz‘, ‚Dirndl‘ oder ‚Knechtel‘ (H. Hetzer): ‚Mit dem die Stufe bezeichnenden Namen war aber auch eine ganz bestimmte, festgelegte Form der Behandlung verbunden. Es stand fest, was der Erwachsene dem Kinde an Hilfe zu bieten hat, was vom Kinde gefordert beziehungsweise ihm zur selbständigen Erledigung überlassen werden durfte.‘“ (Zitiert aus: KÖHLE, CLAUDIA / KÖHLE, PETER: Verständnis für den anderen: Ein Elternkurs. Leipzig/Jena/Berlin 1982, S. 70).
Von wegen das Hirn ist in der Pubertät eine Großbaustelle. Vielleicht ist es das. Aber selbst auf einer Baustelle kann man Ordnung halten, wenn man es nur will. Ich bin überzeugt, auch Pubertierende können sich benehmen können, wenn es eine starke Gemeinschaft gibt, in der alle wichtigen Erwachsenen auf die gleichen Kernpunkte oder Knotenpunkte des Verhaltens achten – dabei jeder durchaus auch auf seine persönliche Weise -, und wo die Verletzung dieser Kern- oder Knotenpunkte Folgen hat, möglichst einfache, möglichst sachliche, möglichst praktische und vor allem kurzfristig spürbare. Ein Schüler, der – zum Beispiel – seinen Lehrer beschimpft und nicht bereit ist, sich dafür zu entschuldigen, müsste sofort aus dem Unterricht genommen und in einen „Besinnungstraum“ gebracht werden, wo extra dafür abgestellte Pädagogen breit stehen. (Über einen solchen Raum habe ich schon in anderen Beiträgen geschrieben. Sie können das Wort oben bei der Suche-Funktion eingeben, dann werden Ihnen diese Beiträge angezeigt.) Dort hätte er einen Reflexionsbogen mit immer genau den gleichen Punkten zu bearbeiten:
- Was genau war falsch an dem, was ich gemacht habe?
- Was war so schlimm daran?
- Wie konnte es aufgrund des Denkens, das ich mir angewöhnt habe, dazu gekommen sein?
- Durch welches andere neue Denken muss ich dieses alte Denken ersetzen?
- Welche sind die ersten Schritte dazu?
- Hat der, den ich beleidigt habe, auch (ein bisschen) mit schuld daran. (In aller Regel nicht und Ziel ist, das zu erkennen.)
Die Arbeit ist erst beendet, wenn alle diese Fragen in ansprechender Form beantwortet sind. Ein Duden liegt bereit. Pro Seite dürfen nicht mehr als eine bestimmte Zahl Fehler auftreten, je nachdem, wie das Rechtschreibausgangsniveau des betreffenden Schülers ist. Ist er im Deutschen gänzlich unfähig, muss er das fehlerfrei abschreiben, was der Lehrer aus dem Gespräch mit ihm heraus für ihn vorgeschrieben hat. Der betreffende Schüler muss selbst seine Eltern telefonisch informieren, dass er heute länger bleiben muss und dass sie ihn, sagen wir, ab 16 Uhr abholen können. Dann könnte gleich noch ein pädagogisches Gespräch mit den Eltern stattfinden. Wenn nötig, wird das an mehreren Nachmittagen wiederholt. Wer sich dem wiederholt verweigert, dem wird nach mehreren Mahnungen das Kindergeld gekürzt.
Verstehen Sie, worum es geht? Es geht um die strategische Offensive. Die deutsche Pädagogik ist gegenüber solchen Machos total in die Defensive geraten, und das schadet allen, diesen selbst, weil sie einen falschen Weg in den Abgrund weitergehen dürfen müssen. Das rennt sich leicht runter, der Wind weht um die Ohren, aber der Aufprall unten wird furchtbar sein. Es schadet ihren Eltern, die in den meisten Fällen unglücklich darüber sind, dass ihnen ihre Kinder entglitten. Es schadet den Lehrern, die unter solchen Attacken leiden und es irgendwann nicht mehr aushalten und den Schuldienst quittieren. Es schadet der ganzen Gesellschaft, der so leistungsfähige Arbeitskräfte verloren gehen.
Und alles nur deshalb, weil hier im Westen unter pädagogischer Professionalität verstanden wird, immer neue Gründe zu finden, warum sich ein Kind/ein Jugendlicher angeblich nicht benehmen können kann. Das ist mir eine „Wissenschaft“, die das Versagen erklärt und rechtfertigt, anstatt praktisch erfolgreiche Wege zum Gelingen aufzuzeigen und, wenn nötig, mit den Kindern und ihren Eltern einzuüben. (Sei’s drum, wenn die Pädagogik dann keine „Wissenschaft“ mehr, sondern „nur“ ein Handwerk wäre. Handwerk ist wichtig, ist entscheidend, gerade auch auf dem Gebiet der Erziehung. Hoffentlich begreifen wir es noch rechtzeitig, bevor Deutschland „ganz unten“ angekommen ist.)
Aber nun zurück zum Buch „Isch geh Schulhof“: Nach der am Anfang des Beitrages in Einnerung gerufenen schweren Flegelei („du Arschloch“ zum Lehrer, Sachen vom Tisch gewischt und Beine rauf) geht Raik auf Mitschüler los und boxt einem brutal in den Magen. Philipp Möller beschreibt das weitere Geschehen: „Ich komme gerade noch rechtzeitig, um ihn von weiteren Schlägen abzuhalten. Als ich ihn am Oberarm packe, reißt er sich los.
Fass mich nicht an, du Wichser!“, brüllt er panisch. „Oder ich zeig dich an, klar?“ (S. 30) Ein wild gewordener Schläger droht dem, der ihn daran hindern will, mit einer Anzeige. Lehrer Möller fällt nichts anderes ein, als dieses Verhalten zu ignorieren. Er hat ja unter den gegebenen pädagogischen Rahmenbedingungen in der Tat keine andere Möglichkeit. Das läuft im Großen – in der Gesellschaft – so ähnlich wie im Kleinen – in der Schule. Deutschland ist eine Machozucht-Nation.
Aber wenn ein jüdischer Mitbürger betroffen ist, geht das nicht mehr, dann ist das Geschrei groß. Aber warum soll ein junger „Tyrann“, der daran gewöhnt ist, ungehindert immer das zu tun, was ihm seine ungesteuerten Emotionen gebieten, sich nun plötzlich benehmen können?
Da hilft auch nicht immer noch mehr „Rotbestrahlung“, wie wir in der DDR gesagt hatten. Der Staatsbürgerkundeunterricht damals war genauso unwirksam wie es heute immer noch mehr politische Bildung und Geschichtsunterricht sind, selbst dann, wenn dort nur noch, in allen Klassenstufen, die Zeit des Nationalsozialismus behandelt werden würde. Das, was praktisch üblich, Sitte und Brauch ist, erzieht viel mehr.
3. [Nach 1. und 2. in meinem vorigen Beitrag.] Drei übergewichtige türkische Mädchen fragen ihren Lehrer, ob er eine Freundin hat: „‚Was ist deine Freundin?‘, fragt Nesrin weiter. ‚Was meinst du damit?‘, entgegne ich irritiert. ‚Sie ist eine Frau.‘ Nesrin schüttelt energisch den Kopf. ‚Nein, isch meine: Welche Sprache spricht sie?‘ … Ich erkläre ihr, dass meine Freundin aus Deutschland stammt und sogar Deutsch spricht. Und wo kommt ihr drei her?‘, möchte ich von ihnen wissen. ‚Wir sind Türkei‘, unterbricht Büsra plötzlich ihren Lachanfall und schaut mich stolz an. Auf die Frage, wo sie denn geboren seien, sagt Gülem: ‚Ja, okay, Dings, Deutschland – aber wir sind trotzdem Türkei!‘ Dabei legt sie ihre dicke Hand aufs Herz.“ (S. 50f.) Können Sie sich vorstellen, dass deutsche Kinder, die in einer anderen großen Industrienation, z.B. den USA oder Kanada, geboren wurden, einem dortigen Lehrer mit der Hand auf dem Herzen sagen würden: „Wir sind zwar hier geboren, aber trotzdem Deutschland!“ Unvorstellbar! Das spricht Bände über die Lage der deutschen Nation und über das links-grüne Wunschdenken, wonach die nationale Herkunft doch nebensächlich ist, weil wir sowieso alle Europäer oder Erdenbürger seien. (Fortsetzung folgt)
5 Kommentare zu “„Isch geh Schulhof“- Impressionen aus den Welten des Bürgergelds und der Erziehungsverweigerung (Teil 2)”