„Weiter, weiter ins Verderben…

Wir müssen leben bis wir sterben“. So Rammstein in ihrem „Erlkönig“. Dieser Refrain fiel mir sofort ein, als ich gestern in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) auf Seite 1 die Schlagzeile las:

„Verzicht auf Schulnoten bis Klasse 8? Experten legen Reformpläne vor“

Macht nur so weiter, liebe Experten „aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen /1/, Schüler- /2/ und Elternschaft“. Das sind offenbar alles besonders fortschrittliche Kräfte, besonders weit fortgeschritten von den Realitäten. Deutschland gehört zu den Ländern mit den höchsten Lehrergehältern und trotzdem wollen immer weniger Lehrer werden, ganz ähnlich wie übrigens Polizisten.

Woran kann das bloß liegen? Ein tief verborgenes Geheimnis! (Ein wenig habe ich den Schleier schon in „Du kannst heute nicht mehr Lehrer sein…“ und in „Die Grundfrage der Erziehung“ gelüftet.) Da werden wir noch viele neue Studien brauchen und noch mehr Lehrstühle für Pädagogik und Politikwissenschaften, die der Steuerzahler dann bezahlen muss, und das wird teuer, weil ja immer beachtet werden muss, dass auch ja jeder einzelne „que[e]re“ Bewerber berücksichtigt wurde.

Im Gegensatz zu asiatischen Ländern wie China, Singapur, Südkorea, Vietnam und Japan, die von mal zu mal ihren Abstand in den internationalen Leistungsvergleichen, besonders bei den elementaren Geistestechniken Lesen, Schreiben /3/ und Rechnen gegenüber Deutschland vergrößern, setzt Deutschland unverdrossen weiter auf die Individualisierung als Lösung aller Probleme.

Dass diese Arznei den Kranken – das  Wissen und Können der Schüler – immer noch kranker macht und sich in anderen Teilen der Welt das Setzen auf klare Ordnungen und Strukturen, in die sich lernende und aufwachsende Kinder einfügen können und sollen, als leistungssteigernd bewährt, wird einfach ignoriert. Wobei, das muss man dem „Westen“ und insbesondere Deutschland als seinem Vorreiter lassen: Die Individualisierung findet nicht durchgängig statt.

Für die Lehrer gilt sie zum Beispiel nicht. Deren individuelle Eigenarten bleiben einfach außen vor, auf sie wird keine Rücksicht genommen. Auch ihre Bewertung wird verschärft. Im Internet findet immer mehr eine (Ab)Wertung von Lehrkräften statt. Warum gibt es denn bei ihnen keine „individuelle Beurteilung des Le[h]r[n]- und Sozialverhaltens“, warum werden denn mit ihnen, wenn es Probleme gibt, keine „gemeinsamen Zielvereinbarungen“ getroffen, z.B. in Lehrertandems, vor allem wenn Lehrer noch am Anfang ihres Berufslebens stehen oder in neue Schwierigkeiten geraten sind?

Menschen brauchen für ihre Entwicklung klare Rückmeldungen, immer, aber besonders dann, wenn sie sich in einem Alter befinden, in dem die körperliche und geistige Entwicklung besonders schnell voranschreitet, also in ihrer Kindheit und Jugend. Zum Leben gehören Erfolge genauso wie Misserfolge. Die können wir den Schülern nicht ersparen, sie werden in ihrem Leben noch oft damit zu tun haben, sie werden immer wieder Bewertungen verkraften müssen, die sie verletzen. Dann doch lieber kurz und bündig in einer Note als herumgeeiert. Entscheidend ist nicht die negative Rückmeldung, die natürlich erst einmal verunsichert und weh tut, entscheidend ist, in welchem Kontext, pädagogischen Ambiente sozusagen, sie mitgeteilt wird.

Ist es eine Stimmung der Offenheit und des Optimismus, des „Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen“, des „Zusammen schaffen wir das schon“ /4/, kann auch eine Fünf oder eine Sechs weiterführen, besonders dann, wenn es in einer Schule bzw. Klasse üblich ist, dass sich die Schüler gegenseitig helfen. Aber das ist nicht mehr üblich. Die Individualisierung, verbunden mit Geheimnistuerei – keiner soll wissen, dass ich eine Fünf hatte -, schreitet voran. Vorwurfsvoll werden dann spezielle Nachhilfeinstitute eingefordert, die am besten noch sonderpädagogisch aufgestellt sind /5/ und die dann wieder wer? – natürlich der deutsche Steuerzahler finanzieren soll.

Herrscht in den Schulen eine Fehlerkultur, die auch für die Lehrer zutrifft? („Es ist mir peinlich. Aber ich muss euch gestehen: Ich habe es gestern Abend beim besten Willen nicht mehr geschafft, mich auf diese Stunde vorzubereiten. Jetzt müssen wir gucken, wie wir das gemeinsam hinkriegen.“) Dann ist eine Mentalität da, die sagt: Zusammen wird es besser werden. Frustrationstoleranz ist nicht gerade eine Stärke heutiger Schüler. Und das betrifft keinesfalls nur die „kleinen Paschas“ und Prinzessinnen, die Friedrich Merz in seltenen Momenten, die Realität so zu sehen, wie sie ist, entdeckt hat. Sie sind Meister im schnellen Beleidigtsein. Und das wird befördert, indem wir sie vor klarer Kritik „schützen“. Aber das betrifft nicht nur orientalische Paschas. Das ist generell typisch geworden für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Sie lernen zu wenig, mit Niederlagen umzugehen.

Wann gibt es denn ehrliche Gespräche, wo die Kinder wirklich zuhören und die zu einer Vertiefung der Beziehung führen? Dann und wenn wir vorher einem „zu nahe getreten“ waren, wenn er psychisch berührt wurde und betroffen ist. Ansonsten wird das Bla-Bla in der Erziehung, das sowieso schon viel zu viel ist, noch weiter zunehmen. Aber bei uns gilt ja das „Fass mich nicht an!!“, auch verbal nicht, sondern lass mich genauso bleiben, wie ich Lust habe, zu sein. Das kann erst einmal angenehm sein, aber es bringt keinen weiter.

Das Problem ist nicht die Macht Lehrender und Erziehender, sondern ihre Versteckung und Verdeckung , wie das bei der Beurteilung in Form schwammiger Sätze immer wieder auftritt. Die Schüler müssen wissen, dass sie sich an eine Vielzahl von Menschen in der Schule vertrauensvoll wenden können, die älteren auch an andere Schüler und alle an Pädagogen auf den verschiedenen Ebenen: Klassenlehrer und sein Stellvertreter, Vertrauenslehrer, Mitglieder der Schulleitung.

Das ist Vergemeinschaftung anstatt Individualisierung, und das verhindert einen individuellen Machtmissbrauch. Bei so einem weit gefächerten System gegenseitiger Kommunikation wird er in der „Sonne und der frischen Luft“ der Gemeinschaft aufgedeckt und nicht – in psychologisch angeblich nötigen – Einzelgesprächen hinter verschlossenen Türen befördert.

In einer solchen Atmosphäre wirken klare Ansagen, Bewertungen und Konsequenzen (Extratraining, Extraübungen) nicht toxisch. Ohne sie steigt keiner in die Oberklasse auf, weder beim Sport, noch beim Lernen von Fachwissen und/oder zum Beispiel auch bei der Beherrschung von Musikinstrumenten. Wenn wir dann ganz unten bei den Fähigkeiten unserer Kinder angekommen sind, werden wir merken, dass man Euro-Scheine nicht essen kann.

 

Fußnoten

/1/ Den Kirchen laufen die Gläubigen zu Hunderttausenden weg. Wieso tun sie sich dann hier noch wichtig? Dann müssten genauso Islamvertreter eingeladen werden, die insgesamt zu Fragen der Erziehung vielleicht noch ein realistischeres Bild haben als die Kirchen.

/2/ Nanu? Sind „Schüler“ plötzlich auch in der fortschrittlichen LVZ Jungen und Mädchen, genauso selbstverständlich wie bei „Kindern“ und „Jugendlichen“, so dass nicht extra die „Schülerinnen“ angefügt werden müssen.

/3/ Ich warte nur noch darauf, dass als Schuldiger die „minderwertige“ oder zu schwierige deutsche Sprache ausgemacht wird und unsere Eliten fordern, Englisch zur Unterrichtssprache zu machen. Das ist gar nicht so absurd, wie es für „normal“ denkene Deutsche auf den ersten Blick ist. Die FDP fordert allen Ernstes, Englisch zur zweiten Amtssprache in Deutschland zu machen. Dann gäbe es keinen handfesten Grund mehr, Deutsch zu lernen und die jetzt schon vorherrschende Anspruchshaltung, dass die Deutschen anstatt dessen lieber Englisch lernen sollen, würde noch weiter um sich greifen. Die Studiengänge von immer mehr Universitäten in Deutschland finden heute schon auf Englisch statt. Albert Einstein hat zwar die exzellente deutsche Wissenschaftssprache auch im US-amerikanischen Exil weiter benutzt, aber das ficht die deutschen Verächter des (Sprach)Eigenen nicht an. Dann ist es logisch, dass auch in der Abiturstufe Englisch zur Unterrichtssprache wird und weil Deutsche, das, was sie tun, gründlich machen, kommt dann bald „Butter bei die Fische“, und der ganze Unterricht erfolgt auf Englisch. „Deutschland schafft sich ab“, erschien bereits vor Jahren. Frau Merkel, die von der Merz-CDU einen Orden nach dem anderen verliehen bekommt, fand das Buch damals nicht hilfreich. Hoffentlich behält sie nicht recht, und die deutschen Wähler bleiben tatsächlich unbelehrbar.

/4/ In einer konkreten Schule, in der die Lehrer stark sind und stark sein dürfen und so den Prozess der Erziehung und Bildung führen, kann das tatsächlich klappen. Ich versuche, in der Reihe „Mein Weg ins Leben“ (siehe die „Themen“ in der Auswahl ganz oben, bei der Smartphoneansicht die drei Querbalken links) eine solche Schule zu beschreiben.

/5/ Die Schule passt sich immer mehr einer gestörten Welt an und stabilisiert damit diesen Status Quo, als dass sie die Kinder und Jugendlichen befähigt, „normal“ und leistungsstark zu werden.

Ein Kommentar zu “„Weiter, weiter ins Verderben…”

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