„Zu uns“ hatte ich die erweiterte Schulleitung bei der letzten Sitzung (Teil 7.3 von „Mein Weg ins Leben“) für den kommenden Freitag um 18 Uhr eingeladen. Wir hatten in Waldberg eine Pension gefunden, etwas außerhalb, wo wir uns gut treffen konnten. Cornelia und ich hatten von der Wirtin die Erlaubnis erhalten, den Gastraum mit einer schönen Terrasse zu nutzen. Ich hatte einen Kasten Budweiser auf der Terrasse deponiert, Gerolsteiner Mineralwasser und Apfelsinensaft dazugestellt. Cornelia bereitete eine große Schüssel Eiersalat zu. Verschiedene Sorten frischen Brotes, meistens Vollkornbrot, standen daneben, und ich hatte aus Chemnitz eine Vielzahl teurer Schnittkäse am Stück besorgt, große Löcher musste er haben – das schien mir ein Qualitätskriterium zu sein -, dazu viele „rote“, in Wirklichkeit wohl eher blaue, und auch helle Trauben.
Ich war guter Dinge. Optimistisch und kampfentschlossen. Für den Käse hatte ich Rotwein gekauft und dabei auch schon ziemlich tief in die Tasche gegriffen. Ich war sicher: Es lohnt sich. Alles stand auf der Terrasse auf einem langen Tapeziertisch. Dort hatte ich auch noch zwei kleine Tische hingestellt, so dass man sowohl dort essen konnte, als auch im Gastraum. Es war für den Oktober recht mild, vielleicht sogar 15 Grad, aber auf die Dauer war es drinnen doch angenehmer.
Cornelia hatte erst einmal wieder mehr Probleme als Lösungen gesehen und war sauer, dass ich sie mit dem Vorschlag, die Sitzung bei uns zu veranstalten, überrumpelt hatte. Wir waren seit 5 Jahren ein Paar. Vorher lebte sie mit einem Mann zusammen, der ein eher traditionelles Verständnis von ehelicher Gemeinschaft hatte: Er war der wichtigste Geldverdiener in der Familie und für alles mehr oder weniger Technische zuständig. Cornelia kümmerte sich neben ihrem eigenen Beruf um den Haushalt und die Kinder. Deswegen war sie gar nicht begeistert davon, die Besprechung bei uns in der Pension abzuhalten, weil sie immer noch Angst hatte, dass alles Hauswirtschaftliche an ihr „hängen bleiben“ würde.
Eigentlich müsste sie mich doch inzwischen kennen und wissen, dass ich so ein richtiger „Mischmasch“-Mensch bin. Ich hatte schon immer gern auch selbst gekocht und mich mehr um meine Kinder gekümmert, als das meine damalige Frau tat. Also hatten uns ganz unterschiedliche Lebensarten geprägt, und das hält an, wie jetzt wieder zu sehen war, auch wenn inzwischen schon viele Jahre vergangen sind.
Das Einzige, was sie für die Feier machen musste, war der Eiersalat („Da hatten wir den Salat“). Sie bereitete ihn nach einem speziellen Rezept, das mir schon immer gefiel. (Auf die Kleinigkeiten kommt es an.) Alles andere hatte ich erledigt.
Und doch konnten häusliche Kleinigkeiten zu erbitterten Kämpfen zwischen uns im Alltag führen, weil noch andere frühe Prägungen dazu kamen: Ich war seit Kindesbeinen an allergisch auf Gemeckere. Ich fühlte mich dadurch schnell in meinem Selbstwertgefühl verletzt, das vor allem dann, wenn noch weitere Beteiligte Zeuge dessen wurden, was ich als Beleidigung empfand. Als Kind wurde ich in der 2., 3. Klasse an der Tafel immer wieder von einer Lehrerin vorgeführt. Sie machte sich über mein blockiertes Denken lustig, und die Klasse lachte schallend.
Jetzt empfand ich es wieder genauso: Der erste Gast war eine Viertelstunde zu früh gekommen und Cornelia fing an, in seiner Gegenwart an mir herumzumeckern. Ich hatte mir gerade als Nervennahrung noch ein paar Walnüsse geknackt. Als ich den Gast eingelassen hatte und ihm ein Bier bringen wollte, forderte sie harsch, dass ich erst die Nussschalen vom Tisch entfernen solle. „Gefälligst“ sagte sie zwar nicht, aber es war dem Ton nach deutlich in ihrem Text enthalten. Es war verrückt. Das passierte immer nur, wenn Gäste, sozusagen als Resonanzverstärker, dabei waren. Damit konnte ich nun gar nicht umgehen. Ich holte trotzdem erst einmal das Bier und goss es unserem ersten Gast ein.
Meine beleidigte Seele arbeitete, schäumte das Ereignis in mir auf. Am liebsten hätte ich dem Kollegen gesagt: „Ich gieß dir mal ‚reines Bier‘ ein und sage dir, was Sache ist. Meine Alte geht mir dermaßen auf die Nerven, dass ich am liebsten mit dir jetzt abhauen möchte. Soll sie den anderen erklären, die dann noch kommen, warum die Beratung ausfallen muss.“ Das hatte ich an mir schon des Öfteren beobachtet: Der verdammte Stolz, wenn er verletzt war, neigte ich dazu, ohne Rücksicht auf Verluste alles kaputt zu machen, auch etwas, das ich mir gerade mühsam aufgebaut hatte und das mir sehr wichtig war.
Nur eins hatte mich diesbezüglich besänftigen und gute Miene zum bösen Spiel machen können, das Wohl meiner Kinder, als sie noch kleiner waren. Da hatte ich dann schnell klein beigegeben um des lieben Friedens willen, um der heilen Welt willen, die ich ihnen nicht nehmen wollte. Jetzt waren unsere Kinder groß und schon lange aus dem Haus und meine „Gute-Miene-Energie“ hatte ich weitgehend aufgebraucht. (Ich hoffte, dass ich sie bei meinen Enkeln nicht wieder neu anzapfen müsste.)
Noch hatte ich nichts gesagt zum verfrühten Gast. Die Schande, zu scheitern, konnte auch eine vergiftete Lust sein. Etwas wie das Folgende lag mir auf der Zunge: „Die Welt lässt sich nur verbessern, wenn die zwei, die damit anfangen, erst einmal in der Lage sind, sich selbst zu vertragen. Wir beide sind nun schon lange sehr erwachsen und schaffen das trotzdem nicht. Da bleibt nur eins: Resignation.“ Ich sagte es nicht, denn ich wusste, dass Cornelia als eine eher männliche Seele genauso rücksichtslos bereit war, alles kaputt zu machen, wenn sie sich ihrerseits in ihrem Stolz und in ihren frühen Prägungen verletzt fühlte. So wie ich mit Kritik vor anderen nicht umgehen konnte, konnte sie meine Unordnung in unserer gemeinsamen Wohnung nicht verkraften.
Zwei Alphatiere zusammen machen sich das Leben nicht leicht. Ich fragte mich, ob das auf die Dauer klappen könnte. Zwei Mitmacher kommen gut miteinander aus, aber ein Alphatier und noch eins, das konnte wahrscheinlich nicht gut gehen, wenn sie sich beide zugleich auf der Bühne des Lebens befanden, mit Publikum.
Ärgerlich damals wie heute, wo ich das aufschreibe. Die private Katastrophe, die lächerlicher Weise aus Walnussschalen auf dem Tisch entstand, behinderte die Verbesserung der Welt. Damals, meine positive, kämpferische Stimmung, die ich so sehr für einen positiven Verlauf der Beratung gebraucht hätte, war dahin. Heute: Ich komme mit dem Beschreiben meines pädagogischen Konzepts nicht weiter, weil ich mich an die Realität der erbitterten Streiterei um ein Häufchen Nussüberbleibsel erinnere. Und ich erinnere mich, weil es eben doch wichtig ist, tief eindringt in die Seele.
Ich wusste nicht, wie dieses Problem zu lösen ist.
„Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und leider auch Psychologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh‘ ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor. Heiße Magister, heiße Doktor gar und ziehe schon an die zehen Jahr herauf, herab und quer und krumm meine Schüler an der Nase herum.“
Wir haben uns dann doch, wenigstens nach außen hin, zusammengerissen. Das ist auch eine Methode, einfach weiter zu machen und darauf zu hoffen, dass dabei, durch eine etwas ältere Gegenwart eine kaum jüngere „überschrieben“ werden könnte. Ich wusste genau, dass ich das nicht immer würde so machen wollen und können. Dann ging es eben nicht, dann musste ich mich von Cornelia trennen. Andererseits bin ich ein Einzelgänger, der trotzdem die Hand eines Freundes braucht, gerade bei großen Vorhaben.
Jetzt musste es erst einmal weitergehen, jetzt musste ich erst doch noch mal „gute Miene zum bösen Spiel“ machen, obwohl meine diesbezüglichen Reserven fast aufgebraucht waren: Ich begrüßte alle mit einem Glas trockenen Sektes: „Auf einen konstruktiven Abend. Auf dass wir uns danach ein Stück besser verstehen: ‚Nach dem Verstehen drängt / Am Verstehen hängt / Doch alles!‘ Ich konnte mich gerade noch beherrschen zu fragen: „Na, von wem ist das? Und wie heißt es ursprünglich?“ /1/ Lehrer sollten unter Lehrern nicht den Lehrer raushängen lassen. Das kommt nicht gut. „Wir müssen dann ja immer noch nicht der gleichen Meinung sein“, fügte ich anstatt dessen an und sagte weiter: „aber es wäre doch zu schön, wenn wir besser nachvollziehen könnten, was der andere meint und wie er es tut. Darauf sollten wir das erste Glas erheben.
Ich würde mich sowieso freuen, wenn viele der hier anwesenden Kollegen im Laufe des Abends auch einen eigenen Trinkspruch beisteuern würden. … Ich bitte nur darum, das dann gegenüber allen zu tun und dass diese sich in diesem Moment auf den ausrichten, der den Trinkspruch ausbringt.“ Cornelia rümpfte die Nase. Sie fand, dass ich zu zwanghaft immer wieder Rituale pflegte /2/, und ich konnte es in der Tat nicht lassen. Schuldbewusst fuhr ich fort: „Es tut mir leid, dass ich selbst noch die Trinksprüche regeln will. Ich bin eben ein ‚Pauker‘ durch und durch. Vielleicht kann ich in diesem Kreis auf ein gewisses Verständnis hoffen. …
Ich konnte nicht aus meiner Haut, deshalb setze ich noch einen drauf: Die volle Aufmerksamkeit ist auch deshalb angeraten… Aber nehmen wir erst einmal unsere Gläser… So viel Reglementiererei ist ja nur im Suff zu ertragen. Also trinken wir auf das Verstehen, das Sich-verstehen-Wollen. Das ist das vielleicht Wichtigste in Gemeinschaften. Nehmen Sie bitte einen guten Schluck, damit ich mich traue, meinen Obendrauf-Vorschlag zu machen: Jeder, der einen neuen Toast ausbringt, soll sich bemühen, die bisher gesagten sinngemäß zusammenfassen.“
„Jetzt sehen Sie mal, liebe Kollegen, was ich mit diesem Mann ausstehen muss“, sagte Cornelia, und tat dabei gut gelaunt. „Wenn er schon nicht nur mit seinen Schülern, sondern auch mit Ihnen so umspringt, was muss ich dann erst ertragen?!“ – „Aber es ist ja wohl eine freiwillige Gefangenschaft, in die Sie sich da begeben haben“, sagte ein, wie ich fand, netter Mann. Es war ein Stellvertreter von Herrn Karius, Herr Ludwig.
Fußnoten
/1/ „Nach [dem] Golde drängt, Am Golde hängt, Doch alles!“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Abend, Margarete mit einer Lampe)
/2/ Wir hatten mal bei einer rein privaten Feier im kleinen Kreis eine unschöne Auseinandersetzung, die in das oben erwähnte Muster des Kampfes zweier Alphatiere passt: Ich wollte erreichen, dass bei sechs Teilnehmern die anderen schwiegen, wenn einer redete. Sie wollte aber ihre alte Lebenspraxis fortsetzen, dass auch dann munter Zweiergespräche fortgesetzt wurden, wenn einer etwas Wichtiges allen Beteiligten erzählen wollte. Für mich war ihre Lebens- und Gesprächsart ein Ausdruck des grassierenden Individualismus, der Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich einem allgemeinen Prinzip unterzuordnen. Für sie war das eine Art Freiheitsberaubung, nicht einfach mit dem Nachbarn losquasseln zu können, wenn ihr etwas in den Sinn kam. Ich staunte nur, wie jemand diese Denkweise behalten konnte, der schon seit Jahrzehnten als Lehrer arbeitete.
Ein Kommentar zu “Aufenthalt: Gefangen in frühen Prägungen oder: Der verdammte Stolz (Teil 7.4 von „Mein Weg ins Leben“)”