Dass Kinder andere Kinder töten, ist ein besonders tragischer Sonderfall des Lebens. Wenn das früher einmal hier in diesen Breiten geschah, war fast immer eine angestaute Wut über ein fortgesetztes Benachteiligt-Werden in familiären Verbünden gegenüber (Halb-/Stief-)Geschwistern die Ursache.
Im aktuellen Fall der 12-jährigen Luise haben zwei Mädchen ihrer Klasse, enge „Freundinnen“, die sie schon seit längerer Zeit gemobbt hatten, Luise mit großer Wut erstochen, nachdem diese sich gegenüber Erwachsenen offenbart hatte, um ihren Peinigerinnen das Handwerk zu legen. (So jedenfalls schrieb es Margot Käßmann in der BILD am Sonntag letzter Woche.) Das verkraften Machos ganz und gar nicht. Ich bin mir sicher: Das hatten sie ihr streng verboten. Ihre Wut explodierte offensichtlich, weil es ihr Opfer gewagt hatte, sich ernsthaft aus ihren Fängen zu befreien.
Unsere Zeit hat einen Typ Kinder hervorgebracht, der durchdreht, wenn er nicht mehr seinen Willen bekommt. Diese Kinder sind nicht von Natur aus böse, sie sind „nur“ über die Jahre total verzogen, an das Falsche gewöhnt, verwöhnt worden. Immer wieder haben sie erlebt, dass ein übergriffiges, lustvoll die eigenen Wünsche und „Bedürfnisse“ auslebendes Verhalten ohne wirkliche Konsequenzen für sie blieb, auch dann, wenn sie damit andere Menschen ernsthaft beeinträchtigt oder sogar verletzt hatten.
Immer wieder gab es „kluge“ Personen, die einen komplizierten, verborgenen Grund für ihr gewalttätiges Verhalten fanden – z.B. (Vor/Spät)Pubertät, Probleme von Mädchen mit ihrer Weiblichkeit, Probleme von Jungen mit ihrer Männlichkeit, ADHS, Autismus – und vor vorschnellen oder zu harten Reaktionen eindringlich warnten. Sie fühlten sich dabei wichtig, arbeiteten am Nimbus ihres Expertentums. Dass ein gewalttätiges Kind bestraft werden muss, sagt ja jede Oma und jeder Opa. Da sollte den „Experten“ doch noch etwas Besseres einfallen. Kurzum: Diese Kinder lernten, dass sich gewalttätiges Verhalten lohnt, dass sie mit keinem anderen Verhalten so schnell zu ihren Zielen kommen wie mit Gewalttätigkeiten.
Von ihnen haben sie einen mehrfachen Nutzen: Die anderen Kinder, auch die Lehrer und zum Teil sogar die eigenen Eltern haben Angst vor ihnen und machen, was sie verlangen. Und für viele der Erwachsenen, die sie wirklich stoppen könnten, Jugendamtsmitarbeiter, Jugendrichter, Psychologen sind sie eine „interessante Spezies“, etwas Besonderes. Sie erhalten Aufmerksamkeit von ihnen. Sie hören ihnen zu, weil sie verstehen wollen, wie man etwas so „Abartiges“ machen kann. Da steckt ein Stück besonderer „Respekt“ drin, etwas, was gewöhnliche Kinder und Jugendliche, die sich benehmen können, von ihren überforderten Lehrern und Eltern nicht so oft bekommen.
Wie viele Opfer unkontrollierter Gewalt könnten noch leben,
frage ich mich, wenn es in unserer Welt nicht so angesagt wäre, alles das, worauf einer gerade Lust oder Wut hat, sofort und unreflektiert auszuleben? Ich glaube, die Sehnsucht nach Besonnenheit, nach einer geistigen Abgeklärtheit hat den großen weltweiten Erfolg deutscher Krimiserien wie „Derrick“ oder „Der Staatsanwalt“ ausgemacht.
Herumpöbelnde, bei jeder Gelegenheit emotional explodierende Kommissare, die sich wie unerzogene, verwöhnte Kinder benehmen und mit der größten Selbstverständlichkeit selbst Straftaten begehen, gibt es – inzwischen auch – im deutschen Fernsehen zuhauf. Können wir uns da wundern, dass sich kriminelle Jungmachos ähnlich benehmen? Wie schnell sind sie zutiefst beleidigt, wie schnell fühlen sie sich innerlich in ihrem Stolz verletzt? Und dann schlagen und stechen sie zu, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf das Leben und die Gesundheit anderer.
Ihr Opfer ist für immer tot, ihm haben die Totschläger seine ganze Lebenszeit genommen. Für sie selbst ist nicht einmal ein „Verlust“ von wenigen Jahren zumutbar. Das ist die Philosophie dieser Gesellschaft: Nur das, was noch ist (höchstens auch das, was werden soll), zählt. Wer „draußen“ ist, weil er das Opfer eines Verbrechens geworden ist, hat eben Pech gehabt. Am meisten Anteilnahme bekommt er noch, wenn er ein Opfer von „Nazis“ wurde. Wer aber von „normalen“ Gewalttätern angegriffen wurde, ist schnell vergessen, oft für immer.
Ich ergreife hier Partei für die Opfer, natürlich auch für die von „Nazis“, obwohl ich in der Lage bin, sogar Mörder zu „verstehen”. Ich kann gedanklich ihre Motive nachvollziehen, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Das heißt aber keinesfalls, dass ich ihnen verzeihe oder auf eine Milderung der Strafe plädieren würde. Ich habe also trotz des Verstehen-Könnens, wie es zu einem Verbrechen kam, kein „Verständnis“ für die Mörder.
Ich bin überzeugt, dass wir Menschen bei aller Versuchung der Wut, auch der aus Verzweiflung und tiefem Verletztsein, immer eine innere – vielleicht leise, aber doch deutlich hörbare – Stimme in uns haben, die uns sagt: Tu‘s nicht! Übertreibe es mit deiner („)Notwehr(“) nicht, wende nur das Maß an Gewalt an, das wirklich nötig ist, einen Angreifer zu stoppen! Bleibe verhältnismäßig!
Wenn nun ständig wie bei uns heute die Möglichkeit im Raum steht, dass ein Gewalttäter für sein Handeln „gar nichts konnte“, dann müssen wir uns nicht wundern, dass Menschen, die zu Gewaltexzessen neigen, immer weniger bereit sind, auf die Stimme ihres Gewissens zu hören. Wozu auch? Sie müssen dann nur schlimm genug sein, um sich, nachdem sie sich nach Wut, Lust und Laune ausgetobt haben, einen gemütlichen Platz unter geregelten Verhältnissen in der Sicherungsverwahrung zu „verdienen“.
Das Verrückte in unserer Jetzt-Gesellschaft ist, dass ein Täter verhältnismäßig umso besser dran ist, je weiter er sein Opfer aus dem Leben katapultiert. Ein Getöteter ist absolut „draußen“, seine „Todfähigkeit“ hat keiner geprüft, die ist einfach da. Umso gewissenhafter geschieht das mit der „Schuldfähigkeit“ des Täters. Er lebt in der Gegenwart weiter und kann von all den differenzierten moralischen Bedenken profitieren, von denen ich den Opfern wenigstens ein kleines bisschen gegönnt hätte, als sie um ihr Leben rangen oder flehten.
Und prompt ist es auch wieder so: Der deutsche Staat sieht seine Hauptaufgabe darin, die Folgen für die „Totstecher“-Mädchen abzumildern. Das Opfer ist nun sowieso schon tot, dann soll es wenigstens den Tätern gut gehen. Wenn das alles intern gehalten werden könnte, würde eine gewisse Logik hinter dieser absurden Aussage stecken. Aber es ist nicht intern. Es geht darum, dass alle daraus lernen können, dass jeder junge Mensch, der auch nur erwägt, etwas Ähnliches zu tun, abgeschreckt ist, dass er nicht denken kann: na und, dann lebe ich eben mein Leben weiter, Hauptsache die „Bitch“ ist tot.
Nein, das hat dann einen riesengroßen Preis, du bist dann sozial auch „tot“ für eine lange Zeit, deren Ende du gar nicht absehen kannst und auch danach wird die Last dieser Freveltat dich bis an dein Lebensende beschweren.
Das mag „populistisch“ klingen, aber ein richtiger Gedanke kann auch nichts dafür, dass ihm höchstwahrscheinlich selbst meine Oma zugestimmt hätte. Und sie hat weder Pädagogik noch Psychologie studiert. Bloß weil eine Mehrheit der „einfachen Menschen“ etwas für richtig hält, muss es ja nicht gleich falsch sein.
Einer, der das glaubt, entstammt selbst den „Stammtischen“, diesmal denen der gebildeten „besseren Kreise“; sein Denken ist ähnlich pauschal vorurteilsgesättigt wie das der „gewöhnlichen Stammtische“, nur auf höherem geistigen Niveau.
Das menschlich Besondere und kulturell Wertvolle ist, gerade dann ruhig und bedacht zu bleiben, wenn ringsherum die Emotionen hochschießen wie Geysire. Natürlich können junge Menschen nicht von vornherein so abgeklärt sein; gerade deswegen müsste es aber in einer Gesellschaft Einigkeit darüber geben, rechtzeitig damit zu beginnen und nicht zu früh aufzuhören, sie in diese Richtung zu erziehen, und zwar je temperamentvoller sie von Natur aus sind, desto mehr. Dafür muss man gern erziehen wollen und dafür wiederum das Leben lieben und Menschen mögen, auch solche.
Das passiert auch. Ehrenamtlichen Leitern im Kinder- und Jugendsport kann gar nicht genug dafür gedankt werden, dass sie die Kinder und Jugendlichen trainieren im Geduld-Haben, im Fair-Sein, im Regeln-Einhalten, unabhängig davon, ob sie jeder in jedem Moment für richtig hält (Schiedsrichterentscheidung gilt), im Verlieren- und Verzeihen-Können, im Mannschaftszusammenhalt. Das reicht aber nicht. Alles das muss mehr auch im normalen Familien- und Schulalltag eingeübt und trainiert werden.
So wie die Menschheit nicht wahrhaben will, dass sie trotz geistiger Überlegenheit die Natur niemals bezwingen kann, sich stattdessen klugerweise anpassen sollte, so glaubt heutzutage der Einzelne, dass er seine Persönlichkeit über die Gemeinschaft stellen und seine Bedürfnisse teilweise rücksichtslos durchsetzen kann.
Doch beides ist zum Scheitern verurteilt, die Natur führt es uns bereits vor. Die Menschen sind kulturelle Wesen, ausgestattet mit Verstand und Vernunft, sofern sie schon im Kindesalter lernen, ihre Triebe zu steuern und zu beherrschen. Ich befürchte, unsere Gesellschaft driftet jedoch immer mehr in die Richtung ab, den persönlichen Bedürfnissen und Wünschen viel zu leicht nachzugeben und Verständnis für alles zu haben, sogar für Mörder.
Ja, ganz sicher hatten sie Probleme in ihrem Leben, wer hat sie nicht. Doch Probleme sind dazu da, dass man sie löst. Das sagen die Erfolgreichen, und das macht eine starke Persönlichkeit aus. Aber diese Art der Erziehung scheint aus der Mode gekommen zu sein, ist überholt und unmodern.
Denke ich an die Zeit meiner Kindheit und Jugend zurück, könnte ich mir auch Alibis für falsches Verhalten ableiten. Ja, auch ich kenne noch die Prügelstrafe, habe Erfahrungen mit sexueller Übergriffigkeit gemacht, nach der Wende sog. „Bossing“ erfahren. Doch aus all den Erfahrungen habe ich gelernt. Warum? Weil meine Eltern mich gelehrt haben, immer zuerst das eigene Verhalten in Frage zu stellen und nach den Ursachen zu suchen, bevor ich andere beschuldige. So konnte ich meine Probleme selbst lösen und bin schadlos geblieben, so wie die meisten aus meiner Generation, die teilweise viel Schlimmeres erleben mussten.
Ich denke, momentan vernachlässigen wir den Aspekt der Erziehung hinsichtlich charakterlicher Stärke und Widerstandsfähigkeit. Sogar die Täter packt man in Watte, damit sie ihr Kindheitstrauma bewältigen können. Wer niemals Härte zu spüren bekam, kann auch nicht hart gegen sich selbst sein. Fragen wir doch die Spitzensportler, wie sie zu ihren Höchstleistungen kamen. Natürlich braucht man Talent und Lust, aber das reicht nicht zur Höchstleistung. Davon sprach schon Einstein: 1% Inspiration, 99% Transpiration.
Und wenn nun die Welt so schlimm dran ist, dass sie gerettet werden muss, da braucht es einen Schuldigen. Also klagen wir schon mal die Vorfahren an, die es vermasselt haben, anstatt zu beweisen, dass wir es aufgrund neuester Erkenntnisse jetzt besser machen. Nein, sie werden es nicht können. Sie müssten sich nämlich selbst in die Verantwortung nehmen, Verzicht üben und sich selbst vielleicht manchmal weh tun. Das werden sie nicht wollen.
Doch die Natur und das Leben selbst werden es einfordern, wenn sie nicht wirklich die „Letzte Generation“ sein möchten.
„Man schuldet dem Täter die Strafe,…“
auch dem „strafunmündigen“ unter 14 Jahre altem. „Unterbleibt eine Reaktion auf sein kriminelles Verhalten, nimmt man ihn nicht ernst. … Der Verzicht auf jede Sanktion ist also nur vordergründig human oder liberal. Indifferenz kann ebenso schaden wie überzogene Strenge.“ Das lese ich gerade auf Welt.de.
Mich wundert sowieso immer wieder, dass „Strafe“ auf juristische Sanktionen eingeengt wird. Die Strafe als Zurückweisung, die ein falsches Verhalten nicht nur tadelt, sondern mit spürbaren unangenehmen Konsequenzen verbindet, ist auch ein wichtiges pädagogisches Mittel der Erziehung. Es ist nicht ganz so wichtig wie die positive Bestärkung durch Aufmerksamkeit, gegebenenfalls auch durch ein Lob und eine Belohnung, aber auch wichtig. Mit nur einem Flügel kann der Lebensvogel nicht fliegen.