Gestern Abend habe ich auf 3 Sat einen langen, mehr als dreistündigen Dokumentarfilm über einen alten Lehrer, kurz vor der Rente, und seine Klasse, eine sechste, gesehen: „Herr Bachmann und seine Klasse“.
Der Film spielt in einer kleinen Stadt in Hessen. Nach der 6. Klasse wird entschieden, auf welche weiterführenden Schulen die Schüler gehen sollen. Die große Mehrheit der Schüler ist nichtdeutscher Herkunft, und sie sind alle stolz auf ihre Mütter- oder Väterländer, auch dann, wenn die Kinder selbst schon in Deutschland geboren wurden. Sie fühlen sich keinesfalls als Deutsche, sehen dieses Land als eine ungeliebte Gouvernante, die sich gefälligst um sie zu kümmern und sie mit ihren Familien zu versorgen hat, aber ihr Herz hängt an den Herkunftsländern ihrer Eltern.
Ich werfe das nicht diesen Kindern bzw. Jugendlichen vor, sondern einzig und allein dem aufnehmenden Land, das über viel zu wenig Selbstliebe und Eigenstolz verfügt, als dass es irgendwie begehrt sein könnte, zum neuen Heimatland des Herzens zu werden. Wer will schon zu einer Nation gehören, die sich selbst ablehnt?
Entschuldigung, ich rutsche schon wieder in eine tiefe Rinne meines Denkens und Fühlens: die Gemeinschaftsfähigkeit und Zusammengehörigkeit nicht nur auf familiärer und regionaler Ebene, sondern auch auf nationaler. Hier in diesem Beitrag geht es mir jetzt aber mehr um Pädagogik als um Polititik, um den alten Lehrer, Herrn Bachmann. Er ist ein Typ, ein Menschentyp, seine große Stärke ist, dass er Gitarre spielen und singen kann.
So kann er seine Klasse, 19 Schüler, von denen meist nur ca. 12 anwesend sind, zusammenhalten. Und er ist ein Praktiker, ein „Handwerker“ der Erziehung. Die Liebesfrage ist geklärt, er „liebt“ seine Schüler und zeigt das mehr oder weniger direkt und indirekt. Immer wieder sagt er zu einem Schüler, über den er sich wegen einer guten Leistung freut: „I love you“. Auf Deutsch wäre es gar zu direkt. Und die Schüler geben dieses Kompliment meistens indirekt zurück, schließlich sind sie schon 13, 14 Jahre alt: Plötzlich ruft zum Beispiel ein aufgeweckter Junge, den der Lehrer öfter raus vor die Tür schickt, weil er zu vorlaut ist: „Herr Bachmann, ich liebe diese Klasse!“
Die Liebesfrage ist also geklärt. Die Machfrage klärt Herr Bachmann aber auch immer wieder: Nach dem Stundenende zum Beispiel verlangt er von seinen Schülern eine „Schweigeminute“, ruhig hinter ihren Stühlen stehend. Wenn einer sich auch nur zu laut räuspert oder sonst muckt oder ruckt, verlängert sich diese Minute für die ganze Klasse um eine weitere. Und das konnte sich viele Male wiederholen.
Das ist eine Machtdemonstration, die gut zur familiären Vertrautheit passt, mit der der Lehrer mit seinen Schülern umgeht, Jungen und Mädchen ungefähr in gleicher Anzahl. Er umfasst sie freundschaftlich, hält seinen Arm um ihre Schultern, drückt sie, veranstaltet, wenn er sich besonders freut, ein „Rudelknuddeln“ oder der vorwitzige Schüler, den er besonders oft maßregelt, sitzt ihm halb auf seinem Schoß und er hält ihn mit der Hand.
Das ist ein Graus für den Zeitgeist und die angesagte Pädagogik, die auf „gleiche Augenhöhe“ und auf Distanz setzt, weil sie überall „sexuellen Missbrauch“ wittert. Mir ist auch noch einmal klar geworden, wie lächerlich und substanzlos der Anspruch ist, unsere Bildungs- und Erziehungsprobleme durch eine vorangetriebene Digitalisierung zu lösen. Lehrer Bachmann arbeitet mit Tafel und Kreide, mit seiner Gitarre, mit Jonglierbällen und Tee, den er seine Schüler während des Unterrichts kochen lässt. Er arbeitet vor allem mit seiner Persönlichkeit, die er öffnet für die Seelen seiner Schüler. Das funktioniert aber nur, weil er zugleich der „Boss im Ring“ ist, weil er führt und zuhören kann – wirklich und bis zu Ende.
Wenn wir nicht mehr solcher Lehrertypen, natürlich auch Frauen, haben, nutzt alles andere nichts. Dieser Lehrer steckt offensichtlich in keiner privaten Beziehung. Er erzählt seinen Schülern von alten, gescheiterten. Vielleicht ist das der Grund, warum er so viel L(i)ebe(n)skraft für sie aufbringen kann, und es zeigt auch die große Gefahr seiner persönlichen Existenz: Nach der letzten Stunde, vor Beginn seiner Rente, sitzt er allein und verlassen im Klassenzimmer. Der vorwitzige Junge, der gerade noch Liebeserklärungen an die Klasse gemacht hatte, hat sich nicht einmal richtig von seinem alten Klassenleiter, der mit ihm auch auf Klassenfahrt war, verabschiedet. Ich habe es jedenfalls nicht im Film gesehen.
Ich spüre eine große Einsamkeit des alten Mannes. „Ich besuche Sie einmal“ ist eine hohle Phrase, und ich habe nicht einmal diese gehört. Ein Kapitel des Lebens ist unwiderruflich beendet, so wie wenn die flügge gewordenen Kinder das Elternhaus verlassen. Es ist gefährlich, ein Vakuum der Liebe im eigenen Leben mit der Zuneigung zu seinen Schülern füllen zu wollen. Einerseits gibt das zwar mehr Kraft und Geduld, so lange die Schützlinge da sind, andererseits behindert das sachliche Absprachen mit anderen Erziehenden, den Lehrerkollegen oder Eltern.
Michael Winterhoff spricht in diesem Zusammenhang von „Beziehungsstörungen“, die in unserer Gesellschaft um sich greifen, nämlich der „Projektion“ und „Symbiose“: Erwachsene, denen keine dauerhafte Beziehung zu anderen Erwachsenen gelingt, projizieren ihre Liebesbedürfnisse auf Kinder und Jugendliche, die ihnen vorläufig noch nicht weglaufen können. (Michael Winterhoff ist wegen seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis inzwischen zwar umstritten, aber in dieser Beziehung hat er meiner Meinung nach nach wie vor recht.) Wieder einmal gibt es zwei Seiten der Medaille: Es ist gut, dass Herr Bachmann seinen Schülern, auch emotional, so zugewandt ist, aber das hat auch eine Kehrseite, seine Einsamkeit ohne sie.
Am Ende schenkt ihm einer seiner „Lieblinge“, ein 14-jähriger bulgarischer Junge, eine Strickmütze in den bulgarischen Nationalfarben; sie war in einer Verpackung mit einem großen roten Herzen. Herr Bachmann ist ganz gerührt, sagt: „Ich werde sie nie wieder absetzen“ und etwas wie: „Aber das weißt du? Ich adoptiere dich!“ Und da ist sie wieder, meine persönliche Lebensrinne: Wäre Herr Bachmann jemals auf die Idee gekommen, eine schwarz-rot-goldene Mütze zu tragen oder zu verschenken? NATÜRLICH nicht! An diesem „natürlich“ krankt unsere deutsche Welt.
PS: Wissen Sie, was mir an dem 2021 fertiggestellten Film noch gefällt? Herr Bachmann singt mit seinen Schülern das schöne Lied von Xavier Naidoo: „Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt / Dann nur, damit du Liebe empfängst…“ Da wird nichts weggeschnitten, wie das in unserer Kanzelgesellschaft (hab‘ mich nicht verschrieben, das Wort soll so heißen) heute üblich geworden ist.
PSPS: Wer sich wundert, dass ich konsequent das Gendern vermeide, bedenke bitte, dass ich das Weibliche durch die Anfügung von „…in“ nicht zu einer Ableitung des Männlichen herabstufen möchte. Siehe meinen Kommentar zu Metas Beitrag Gendern (3).
Eine beeindruckende Dokumentation, auf alle Fälle sehenswert. Aber wer hätte es vermutet, meine Schlussfolgerungen sind ähnlich und trotzdem verschieden 😀
Nur zwei Gedanken: Nationalstolz ist nichts, mit dem man geboren wird. Es wird einem anerzogen. Mit 13-14 Jahren beginnt man langsam, die Welt zu begreifen und zu hinterfragen. Hier werden soziale Strukturen gewoben. In dem Alter beginnt man, die großen Sinnfragen des Lebens zu stellen und muss sich gleichzeitig einer sich radikal ändernden Welt klarkommen (oder besser gesagt, die Welt ändert sich nicht, aber durch die Strukturellen Änderungen des Gehirns nimmt man die Welt plötzlich komplett anders wahr). Die Schüler erzählen doch am Anfang, wo sie herkommen und wohin sie sich hingezogen fühlen, aber das Schema ist bei allen identisch. Sehnsucht nach Geborgenheit und ein verklärtes Gefühl, sozusagen „die gute alte Zeit“. Sie kannten nicht mal das Wort „Heimat“ in ihrer Muttersprache. Sie kennen nicht einmal die Realität beispielsweise in der jetzigen Türkei, der Besuch in ihrer „Heimat“ liefert ja ein drastisch über romantisiertes Bild von Familie, dass vollkommen abseits der Realität stattfindet. Auch darüber wird ja in der Doku gesprochen. Auch darüber, dass sie hier ankamen und erstmal ausgeschlossen wurden, weil sie kein Wort deutsch konnten. Wie sollen sie denn bitte so irgendeine Verbundenheit zu etwas entwickeln, wo sie nur Abneigung und keinerlei Respekt erfahren.
Und Ihre Interpretation mit der bulgarischen Mütze: vielleicht möchte Bachmanns Schüler etwas völlig anderes ausdrücken, z.B. „Herr Bachmann, für mich sind sie ein Bulgare!“ und damit ein „Du bist Familie für mich“. Eine schwarz-rot-goldene Mütze wäre hier dämlich, weil dafür liegt vor den Schülern noch ein weiter Weg. Aber Menschen wie dieser Lehrer sind Baumeister für solche Straßen des Lebens.
Ich fand diese Dokumentation sehr schön und hoffnungsvoll. Sie zeigte mir, dass es wirklich auch Menschen gibt, die mit Begeisterung Lehrer und Vorbild sind und wirklich für Ihre Schüler etwas erreichen wollen, egal woher sie stammen, was sie können und welche Meinung sie haben. Sie zeigte beeindruckend, dass man Menschen mitnehmen kann und schlussendlich in eine Gesellschaft integrieren kann, wenn man sie ernst nimmt, sich mit ihnen beschäftigt, mit ihnen redet und auch ihnen Gelegenheit gibt zu reflektieren und ihre Gründe für bestimmte Handlungen ebenfalls anhört, eben sie einfach in ihrer Gesamtheit respektiert.
Man sieht es doch wundervoll. Der Lehrer Bachmann hat keinerlei Macht. Er genießt allerdings unendlichen Respekt, den er sich sehr hart und mit einem hohen Preis verdient. Er erwartet von seinen Schülern nicht, dass sie sich immer richtig verhalten. Er zeigt immer wieder, dass er beide Seiten versteht. Er schulmeistert nicht von oben herab, was richtig und falsch ist. Er moderiert, gleicht aus, greift aber auch regulierend ein, wenn es nötig ist. Er bestimmt nicht einfach so: „Hilf ihm jetzt in Englisch“, er erklärt, warum das sinnvoll sein kann, respektiert aber gleichzeitig eine Gegenmeinung. Er schmeißt Schüler nicht als Strafe aus dem Unterricht, er erkennt eher genau, wenn die Hormone kochen und deswegen Kommunikation grad nicht möglich ist. Sozusagen eine kurze Zwangspause, nach der er sie auch nicht allein mit Ihren Problemen lässt.
„Ich besuche Sie mal“ muss keine hohle Phrase sein. Ich selbst kenne zwei Lehrer aus meiner eigenen Schulzeit, die ich immer noch besuche, wenn ich in der Nähe bin. Von diesen Lehrern weiß ich auch, dass einige andere Ex-Schüler sie ebenfalls sehr regelmäßig aufsuchen. Es liegt wohl eher am Lehrer, wie ernstgemeint ein solcher Abschiedssatz ist.
Natürlich hat Lehrer Bachmann Macht. Auf der Grundlage von Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen ist Macht etwas Gutes. Er gebraucht sie nicht im moralisch-symbolischen Sinne wie im „freien Westen“ üblich: Du musst nicht nachsitzen, um Gottes Willen, das wäre ja Freiheitsberaubung, aber ich erteile dir eine Verwarnung, gar eine Rüge. Das interessiert nur die Schüler, die sich sowieso benehmen können. Die anderen brauchen so konkrete Folgen – nenn‘ es Strafe oder sonstwie – für ihr falsches Verhalten, wie sie Lehrer Bachmann handhabt: Wenn ihr nicht ruhig sein könnt, bleibt ihr erst recht stehen, wenn du eine Verwarnung nicht ernst nimmst, fliegst du raus. Das ist Machtgebrauch, der gute Gebrauch einer Macht oder der Gebrauch – nicht Missbrauch – einer guten Macht.