Die originale Gretchenfrage (Faust I) lautet: Wie hältst du’s mit der Religion?
Gretchen ist von Faust schwanger und der eigentliche Sinn ihrer Frage ist folgender: Sie will wissen, ob er ihr Verhältnis jetzt mit dem Segen der Kirche legalisieren wird. Für mich haben alle Fragen, die man heutzutage als Gretchenfragen bezeichnet, entweder mit Religion und Weltanschauung zu tun oder mit versteckten Botschaften, wo man das Gemeinte hinter dem Gesagten verstehen muss.
Bis zu meinem 18. Lebensjahr habe ich in Fragebögen beim Stichwort Religion vermerkt: neuapostolisch. Danach: ohne. Der Abschied von der Religion war ein schleichender Prozess, unter den meine Austrittserklärung aus der Kirche wenige Tage nach dem Abitur einen vorläufigen Schlusspunkt setzte.
Wenn man mich heute nach meiner Religion fragt, dann antworte ich: Mein Blick auf die Welt ist pragmatisch, skeptisch, ironisch und sozialistisch. In der Reihenfolge. Dann sagt meistens jemand aus der Runde: Vonwegen Religion, das ist nicht mal eine Weltanschauung. Als wäre Weltanschauung die missratene kleine Schwester der Religion. Dabei sagt der Begriff doch nur: Das ist meine Art, die Welt anzuschauen, ihr mit einer Mischung aus Wissen und Glauben zu begegnen, fest gemacht an praktischen Erfahrungen und von der Überzeugung getragen, dass alle Erkenntnis vorläufig ist.
Klar, in diesem Konstrukt fehlt die Gottesfigur, aber ist es deshalb minderwertig? Warum legt das Wort konfessionslos – wie auch verwandte Begriffe, z.B. atheistisch, nicht-religiös oder gar gottlos – einen Defizitbefund nahe, gar die Abwesenheit eines Wertesystems? Braucht der Mensch die Vorstellung von einer übermenschliche Autorität, um sich an seine eigenen Wertvorstellungen zu halten? Braucht der Mensch ein Sprachrohr, das seine eigenen Wünsche und Bestrebungen verkündet und als objektive Instanz wirkt? Die üblichen Gründe für einen Kirchenaustritt, wie zum Beispiel: abhanden gekommener Glaube an den alten Mann mit Rauschebart, Ablehnung der systemimmanenten Heuchelei, Empörung über Missbrauchsvorfälle, hatte ich damals nicht. Als der erste Sputnik die Erde umkreiste und die Frage aufkam: Wo ist denn nun euer Gott, hätten wir ihm nicht begegnen müssen?, dachte ich nur: Was für eine dumme Frage, der kann schließlich überall in dem unendlichen Weltall sein, der ist schließlich allmächtig. Auch die Zweifel an Gottes Allmacht waren nicht mein Problem. Mein Problem war, dass ich an der Seriosität von Gottes Güte und Gnade zweifelte, weil mir sein Konzept einer, je nach dem, monströsen Belohnung oder Bestrafung so gar nicht souverän vorkam, sondern einem kleinlichen, rachsüchtigen Menschengehirn entsprungen schien. Warum musste „Gott“ mir gleich ein ewiges Leben im Himmel versprechen, wenn ich mich einfach nur anständig verhielt; warum gleich mit der ewigen Hölle drohen, wenn ich vom sogenannten Pfad der Tugend abkam? Traute „Gott“ mir nicht zu, aus freien Stücken gut zu sein? War es überhaupt „Gott“, der mir das nicht zutraute? Ein Jemand, der seine Zuneigung davon abhängig machte, dass ich an ihn glaubte? Wie kleinlich! Das schaffte ja sogar ich, Menschen fair zu behandeln, denen meine Kragenweite nicht passte – und dieser Gott sollte das nicht schaffen, sondern auf grenzenlose Gefolgschaft pochen und niemanden neben sich dulden? Auch das in Aussicht gestellte ewige Leben war ein Problem – ich wollte nicht ewig leben, die Vorstellung einer Existenz „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ gruselte mich. Was einen Anfang hatte, sollte auch ein Ende haben und seinen Sinn (so hätte ich das damals natürlich noch nicht formuliert) in der Sinnlichkeit der schönen Augenblicke zwischen Anfang und Ende entfalten. Ein weiteres Problem waren die Prinzipien der Männerherrschaft, die sich durch alle Sphären des religiösen Lebens zogen und den Frauen eine dienende Rolle in Demut und Aufopferung zuwiesen. Diese Rolle durchbrachen meine Schwestern und ich schon sehr früh, indem wir zum Beispiel den Predigten unseres Gemeindevorsteher-Vaters mit dem Ziel lauschten, Stilblüten und Floskeln zu entdecken, die wir hinterher kichernd parodierten.
Ich nahm damals an, meinem Kirchenaustritt noch mehr Nachdruck zu verleihen, wenn ich gleichzeitig einen Aufnahmeantrag in die SED stellte. Denn inzwischen fand ich die Vorstellung von einem sozialistischen System, das Chancengleichheit, Gemeinschaftssinn und Friedensliebe propagierte, einleuchtend und erstrebenswert. Drei Jahre später, als meine Aufnahme erfolgen sollte – die Wartezeit war dem Umstand geschuldet, dass die soziale Herkunft der Antragsteller berücksichtigt wurde und ein vorgegebener Prozentsatz von Angehörigen der Arbeiterklasse nicht unterschritten werden durfte – erschien mir dieser Schritt schon nicht mehr so recht plausibel. Ich fragte mich, ob ich die eine Religion nicht einfach durch eine andere ersetzt hatte und stellte meine Eignung zur Genossin öffentlich in Frage, indem ich eine Liste der Zweifel am real existierenden Sozialismus vortrug, die mich mittlerweile plagten. Aber wider Erwarten fand die Aufnahmekommission, dass die Partei „genau solche kritischen Köpfe jetzt brauchte“, und so wurde ich SED-Mitglied.
Hatte ich mich damit von jeglichem Gottesbegriff verabschiedet? Eigentlich nicht, denn bis heute halte ich die Vorstellung von unserer spurlosen menschlichen Vergänglichkeit für eine vulgärmaterialistische Vereinfachung. „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn“, sagt Goethes Faust am Ende seines Lebens. Es wird von mir etwas bleiben, sage ich. Ein zeitweiliger Abdruck der Gedanken und Gefühle, die ich bei meinen Mitmenschen hinterlassen habe, ein Quentchen verwandelte Materie, das weiter wirkt, ohne auf mein Bewusstsein angewiesen zu sein, eine Blume vielleicht, die aus meiner Asche Blühkraft zieht. Nicht komplett getilgt ist damit aber der tragische Beigeschmack, der sich aus der Tragik unserer Vergänglichkeit ergibt.
In Vielem denke ich genauso wie Du, liebe Meta, zum Beispiel was die Ewigkeit betrifft. Wenn wir nicht – auch als Seelenwesen – sterben dürften, würde Gott uns ja „stalken“, er würde uns einfach nicht gehen lassen und immer für sich behalten wollen.
Am Ende verwechselst Du aber zwei Ebenen, wie meine arme Mutter, Gott hab‘ sie selig. Auch sie war immer fasziniert von dem Gedanken, nach ihrem Tod mit ihrer Asche Pflanzen Nahrung zu bieten und so „weiter zu leben“. Ich habe das immer für Unsinn gehalten, weil die Asche-Atome ja nicht „wissen“ können, zu welcher Person sie gehörten. Auf biologischer Ebene lebt man also nur sehr indirekt, auf jeden Fall ohne persönlichen Bezug weiter.
Etwas Anderes ist es mit den originären, eigen-artigen und unverwechselbaren Gedanken einer Persönlichkeit. Nach dem Gesetz der Erhaltung der Energie geht keine Energie im Weltall verloren. Gedanken kommen mir vor wie etwas Energetisches. Vielleicht treffen sich verwandte im Unendlichen, bilden dort neue Konglomerate, in denen die Einzelnen weiterleben, und vielleicht „lauern“ sie im rein Sphärischen nach neuen Körpern auf der Erde oder anderen Planeten, in denen sie sich niederlassen können, quasi als „Wirt“ des ewig Gedanklichen, um diese Körper von vornherein geistig zu prägen und zu bereichern. Allerdings gibt auch auf dieser Ebene – des Bewusstseins – keine personale Beziehung zwischen biologisch Gestorbenem und neu Entstehendem.
Vielleicht ist es gar keine Beleidigung für den Weltgeist „Gott“ als Bündeler aller wichtigen Lebensprinzipien, ihn als „Stalker“ zu bezeichnen. Vielleicht sollte es uns eher veranlassen, nicht nur das Negative und Problematische bei den „Stalkern“ zu sehen (das natürlich da ist), sondern auch ihre Not als möglicherweise „treue Seelen“, die dem zeitgeisttypischen schnellen Wechsel zwischen dem An und Aus von menschlichen Beziehungen nicht „hinterherkommen“.
Lieber Karl,
ich habe eine bildhafte Vorstellung von der Bedeutungsaura von Wörtern, die – wie die meisten sprachlichen Bilder – nicht mit dem Maßstab naturwissenschaftlicher Faktentreue gemessen werden kann. Ich stelle mir Wörter und Wendungen vor wie das Bohrsche Atommodell: Es gibt einen Kern und mehrere „Schalen“, auf denen sich die Elektronen tummeln. Für mein Bild übersetze ich den Atomkern mit Bedeutungskern, die Elektronen mit Bedeutungselementen und die „Schalen“ mit Bedeutungsschichten, die, je näher sie den Kern umkreisen, desto verbindlicher zur Bedeutung dazugehören. Unter den weiter entfernten Schichten sind die persönlichen Assoziationen am wenigsten an den Kern gebunden. So ist auch meine Phantasievorstellung von der personifizierten Asche als Nahrung für sprießendes Grün zu verstehen. Keine Verwechslung, eine bildhafte Übertragung. Übrigens verlasse ich mich nicht so rigoros wie du auf mein intaktes Sprachgefühl – siehe deine Einlassungen zum Verb relativieren -, sondern nehme schon ernst, was die Autoren von Bedeutungswörterbüchern nach strengen handwerklichen Regeln recherchiert haben. Und auf ein Vierteljahrhundert alte Wörterbücher würde ich mich auch nicht bedenkenlos verlassen. Die Bedeutungserweiterung von „geil“ beispielsweise kommt da noch nicht vor.