Die Grundfrage der Erziehung: Was ist primär? Die Anpassung des Einzelnen an seine Gemeinschaft (Familie, Kindergarten, Schule, Kommune, Region, Nation) oder die Anpassung der Gemeinschaft an die einzelnen Individuen, die zu ihr gehören?
Alles ist dialektisch. Sowieso. Geschieht durch und miteinander. Aber was ist primär, der Ausgangs- und Endzustand?
„Autismus“ ist in den meisten Fällen nach meiner Meinung „Pseudoautismus“, der durch eine konsequente Fehlerziehung den Kindern angelernt wurde, aus- und andauernd. Allerdings spielt das Biologische dabei zumeist auch eine große Rolle: „Normale“ Besonderheiten wie eine hohe Introvertiertheit, Langsamkeit und Sprödigkeit der psychischen Prozesse führen zu „autistischen“ Verhaltensweisen, wenn ihnen pädagogisch handwerklich nicht gut begegnet wird – vor allem geduldig, immer wieder das richtige Verhalten einübend, und zwar mit den stilistischen Eigenarten verschiedener erziehender Personen, die inhaltlich aber alle das gleiche anstreben, ein rücksichtsvolles, impulskontrolliertes Verhalten.
Dieses pädagogische Handwerk ist aufgrund einer allgemein hohen, gesellschaftstypischen Irritierbarkeit und Fragilität des sozialen Verhaltens in den westlichen Industrienationen, die durch die fortwährende Individualisierung, Auffächerung und Parallelisierung verschiedener Lebenskulturen und -Stile sowie eine allgemeine „Verwöhnung“ in jahrzehntelangen Friedens- und Wohlstandszeiten entstanden ist, dringend nötiger denn je. Da auch die Erziehenden in Deutschland so individuell sind wie die Kinder, sprich: so uneinig wie nie, was gut und richtig bei der Erziehung ist oder gerade nicht, müssen immer mehr unlösbare Verhaltensprobleme „ausgelagert“ werden in „Sonderbereiche“ wie AD(H)S und Autismus, um die totale Resignation zu vermeiden. (Das erinnert mich an „Sondervermögen“, die in den Bundeshaushalt eingefügt werden, um eine allgemeine Überschuldung zu kaschieren.)
Diese „Verweichlichung“ ganzer Gesellschaften gegenüber Stressfaktoren des Lebens, mit anderen Worten ihre abnehmende „Resilienz“, hat damit zu tun, dass die Besonderheiten jedes einzelnen Individuums grundsätzlich primär gegenüber den Ansprüchen gesehen werden, die eine Gemeinschaft gegenüber aufwachsenden Kindern und Jugendlichen in der Familie, im Kindergarten und in der Schule für den gemeinsamen Lebenserfolg stellen könnte. Als „’Individual‘- bzw. Eigennutz vor Gemeinnutz“ könnte man diese von grundauf falsche Lebensstrategie bezeichnen. Ich glaube nicht, dass die sich individualisierende Lebensweise der westlichen Staaten, die die „Bedürfnisse“ derer ihrer Bürger zuerst befriedigen, die das besonders laut und grell einfordern (können), das Wohlergehen aller ihrer Bürger sichern kann.
Über die Jahrhunderte ging die „Fließrichtung“ einer Gesellschaft ganz selbstverständlich andersherum vom Einzelnen/Besonderen zum Allgemeinen hin. Jetzt ist es in der „westlichen Welt“ angesagt, das umzudrehen. Und es gibt Einzelfälle, wo das tatsächlich angebracht ist, sehr tragische Fälle, wo es sogar besonders angebracht ist und über menschliche Existenzen entscheidet. Aber kann das wirklich die generelle Lösung für die Chancen des Fortbestehens und der Entwicklung einer Gesellschaft sein? Ich glaube nicht. Damit das Besondere beachtet werden kann, braucht es eine funktionierende Gesellschaft mit gemeinschaftsfähigen Mitgliedern, die sich anpassen können wollen und nicht eine, in der das von vornherein in Frage gestellt und z.T. sogar verunglimpft wird.
Die Bedürfnisse aller ihrer Bürger nach Sicherheit und materiellem wie ideellem Wohlergehen zu befriedigen wird eher den Gesellschaften gelingen, die sich nicht darauf kaprizieren, jedem Einzelnen in seiner einmaligen Besonderheit gerecht zu werden, sondern die von ihren Bürgern „erst einmal“ und grundsätzlich verlangen, sich dem Wohl der Gemeinschaften, in denen sie leben, von der Familie bis zur Nation1, unterzuordnen: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für den Land tun kannst“, lautet ein berühmtes Zitat von John F. Kennedy.2
Das ist der erste Schritt, der zweite muss sogleich folgen: Eine Gesellschaft, die das grundsätzlich verlangt, muss den Individuen, die zu ihr gehören, in ihren jeweiligen, klar konturierten gemeinschaftlichen Leitstrukturen und Rahmen – Familie, Kindergaten/Schule, Straße/Kiez, Kommune, Region, Nation – dann auch Chancen und Gelegenheiten geben, sich auf ihre eigene Weise individuell zu entfalten, und zwar auch und gerade für die Gemeinschaften, die sie „tragen“, also ernähren, kleiden, pflegen und fördern. Das ist in den westlichen Gesellschaften, die das Primat des Einzelnen gegenüber dem Gemeinschaftlichen hervorheben, ohne vereinigendes nationales Band immer weniger möglich. Das wiederum trifft besonders für Deutschland zu. Es ist das einzige große Land, in dem das so ist, das auf Gemeinschaftlichkeit auch und gerade in nationaler Hinsicht nicht nur verzichtet, sondern sie geradezu bekämpft.3
Zur Zeit wird gerade unentwegt die Frage nach dem „Wir“ gestellt, das uns in Deutschland zusammenhält. Erst in Krisenzeiten – sowohl persönlichen wie gesellschaftlichen – merken ausgeprägte Individualisten, dass sie eine Gemeinschaft nötig haben. Was hält die Menschen in Deutschland heute zusammen? Da geben unsere Eliten nur eine Antwort: Unsere demokratischen, westlichen Werte. Da können wir uns also von Polen bis Australien, Kanada, Japan, Südkorea und den USA unterhaken. Bloß viele von denen wollen sich nicht mit uns „unterhaken“, denn sie stellen – meiner Meinung nach – zurecht ihre eigenen nationalen „Werte“ und Interessen an die erste Stelle.
Es ist wie in einem Mehrfamilienhaus. Die Familien Müller, Schmidt, Kowalski und wie sie alle heißen mögen, halten zuerst innerfamiliär zusammen, wenn ihr Familienbewusstsein über die Zeiten nicht vollständig entkernt wurde. Erst an zweiter Stelle kommt das Zusammengehörigkeitsgefühl als Hausgemeinshaft. Das ist zweifelsohne auch wichtig, gerade in Krisenzeiten, besonders für die Familien, die zerrissen und vereinzelt sind. Aber eine glückliche „normale“ Familie wird immer sich selbst zuerst sehen und wenn sie von der Hausgemeinschaft spricht, dann von der in den „Farben“ ihrer Familie, also in den schmidtschen, müllerischen und kowalskiischen Farben.
Worin besteht die „deutsche Färbung“ der demokratischen, westlichen Werte? Das wissen sie nicht, die „toleranten“ „Besser-Menschen“ in unserer Gesellschaft, und sie wollen es auch gar nicht wissen, sondern fürchten als Bürger, als „besorgte Bürger“ quasi, dass jeder, der es wissen will, „rechts“4 sein könnte.
Persönlich-familiäre Beziehungsprobleme müssen immer in diesem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden, sonst ist es nicht möglich, sie richtig zu verstehen und zu therapieren. Die allgemein-gesellschaftliche Vereinzelung setzen viele Eltern in Deutschland also in ihren Familien fort. Ich vermute, dass es bei den Migranten, die sich in Deutschland ihre eigene nationale Identität bewahren (und das dürfte überwiegend so sein), signifikant weniger „Autisten“ – sowohl vermeintliche, die privat so gesehen werden, als auch jene, die kinder- und jugendpsychiatrisch offiziell diese Diagnose erhalten haben – gibt als unter der deutschen Stammbevölkerung. Das familiäre Gemeinschaftsgefühl mit seiner kernfamiliären und großfamiliären Ebene, nochmals größer eingebettet in das nationale Gemeinschaftsgefühl, ist ein starkes Gegengift gegen die Ausbreitung und Vertiefung eines möglicherweise genetisch veranlagten autistischen Verhaltens. Das ist jedenfalls meine Hypothese.
Alteingesessene Eltern, besonders west-deutsche, die schon länger in die Lebensschule des Individualismus gehen, können Erziehungsprobleme nur schwer mit einem uneingeübten Gemeinschaftsgefühl in Verbindung bringen. Auf diese Idee bringt sie ihre Sozialisation nicht. Das Biologische ist von Haus aus individueller und für sie von daher naheliegender. Wenn sie das zum Hauptgrund für ein uneinfühlsames, rücksichtsloses Verhalten erklären können, hat weder das Kind etwas falsch gemacht, noch sie selbst. Weder das Kind, noch sie als Eltern müssen sich ändern. Sie können genauso bleiben, wie sie sind.
Praktisch. Und trotzdem kein böser Wille: Es ist ihre feste Überzeugung, dass es sich bei ihren Kindern tatsächlich um neuronale, also „echte“ Autisten handelt, die aufgrund eines genetischen Defekts oder anderer biologischer Ursachen zu dem Verhalten, das sie an den Tag legen, gezwungen sind, und keine Alternativen zu ihm haben.
Diese Annahme nehme ich den Eltern nicht übel. Sie ist menschlich. Wir sind so. Wir suchen die Ursachen für ein Scheitern immer zuletzt im eigenen Verhalten, viel bequemer ist es, sie auf die Natur der Umstände zu schieben: Da ist nichts zu machen. Er ist eben Autist. Das ist dann der typische Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Ich behandle mein Kind entsprechend meiner Überzeugung, dass es biologisch nicht anders könne, und siehe da, es wird tatsächlich so, als wenn es nicht nur ein gelernter, sondern auch und primär ein von grundauf biologischer Autist wäre.
Das ist so ähnlich wie bei armen Kindern, die von ihren Eltern ständig an den Kopf geworfen bekamen: „Du bist blöd! Du bist zu nichts zu gebrauchen! Aus dir wird nichts!“ Wenn diese armen Kinder nicht jemand finden bzw. von diesem gefunden werden, der ein besseres Bild von ihnen hat, der an sie glaubt, werden sie in ihrem Leben tatsächlich nichts zustande bringen.
Nicht zu glauben, dass sich mit eigenen, langfristigen und familiär-schulisch abgestimmten Erziehungsanstrengungen die Lage verbessern ließe, hat noch den „angenehmen“ Nebeneffekt, dass sich damit in Deutschland der Anspruch auf umfangreiche staatliche Unterstützungen begründen lässt. Jeder, der das zu kritisieren wagte und meinte, dass dieses Geld lieber dem ganzen Schulsystem für mehr und bessere pädagogische Mitarbeiter zugute kommen sollte, steht mit dem Rücken an der Wand, denn das ist ein moralisches Heiligtum in Deutschland: Kindern mit „Handicap“ darf nichts verweigert werden.
Im konkreten Fall „autistischer“ Kinder geht es neben den Kosten für den Kinder- und Jugendpsychiater erst einmal „nur“ um Schulbegleiter im Verhältnis 1 : 1, die den ganzen Schultag nichts andres zu tun haben, als für ihre Schützlinge „da zu sein“. Das ist ein Wahnsinn in Anbetracht des real vorhandenen Mangels an Lehrern und anderen pädagogischen Kräften in der Schule, die nicht nur für einzelne, angeblich behinderte Kinder da sind, sondern dafür, dass alle möglichst viel lernen und die Pädagogen psychisch nicht ausbrennen.
Wie sehr („)Autismus(“) biologisch bedingt ist oder (auch) das Ergebnis einer allgemeinen gesellschaftlichen Lebensphilosophie, die die einzelnen Individuen und das, was sie – zu Recht oder zu Unrecht – beanspruchen, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt (und nicht die Pflege menschlicher Beziehungen zwischen ihnen, nicht ihre Gemeinschaftsfähigkeit), ist eigentlich eine akademische Frage. Denn ob so oder so, den („)Autisten(“) und den Menschen, die mit ihnen zu haben, muss geholfen werden. Und ihnen kann geholfen werden, und zwar gut. Auch dann, wenn ein autistisches Verhalten primär genetisch neuronal verursacht wäre, bleibt das menschliche Gehirn, insbesondere das junge, ein Wunderwerk, das Defizite umgehen und langfristig ausgleichen kann, zumindest zu einem großen Teil.
Allerdings sind dazu optimistische Geduld und umgedreht, der Glauben an das Leben, an die Kinder und an sich selbst erforderlich und ein gutes, praktikables pädagogisches Handwerk, das Erziehende genauso kontinuierlich einüben müssen wie die Kinder das Einhalten von Umgangsformen und Ritualen. Darum soll es in den folgenden Beiträgen gehen, wir wollen praktische Lebenshilfe leisten, unsere lebenslangen Erfahrungen als (Groß)Eltern und Lehrer einbringen und auch andere Erziehende mit ihren Geschichten, ihren Erfolgen und Niederlagen zu Wort kommen lassen. Vielleicht finden sich ja sogar Leser, die früher als („)Autisten(“) galten und sich daraus Schritt für Schritt herausarbeiten konnten. Wichtig ist nur, Anregungen für das eigene Denken und Handeln zu bekommen, ohne einen Anspruch auf die Richtigkeit des eigenen Standpunktes zu stellen.
Bei diesem Herausarbeiten, vielleicht auch „Herausspielen“, aus autistischen Verhaltensweisen wird es vor allem um Umgangsformen, Zeremonien und Rituale als Hauptmittel der Ausrichtung des Ich auf andere Menschen gehen
1 „Europa“ und „die Welt“ sind als die Hauptausgangsgrößen von Gemeinschaftlichkeit für ein „normales Kind“, das noch nicht durch grenzenlose Überversorgung übersättigt und dadurch abgestumpft ist, zu groß. Ein „Großes und Ganzes“ muss sich von anderen „Großen und Ganzen“ hinsichtlich Mentalität und Traditionen unterscheiden, wenn es im psychologischen Sinn eine Gemeinschaft sein will. Nur ein Multimillionär ist wirklich überall zu Hause auf der Welt, aber nur der. Wenn dieser Grundsatz, dass Liebe immer konkret und damit abgegrenzt sein muss, nicht gelten soll, müssen sich die Europa- und Weltpatrioten fragen lassen, wie sie ihren Erde-Chauvinismus vertreten wollen, wo es doch noch viele andere Planeten im Weltall gibt, auf denen Leben möglich ist. Offenheit für Alles und das verständnisvolle Geltenlassen von Allem kann auch sein und hat auf jeden Fall seinen intellektuellen Reiz und Charme, aber es hat eine kognitiv-abstrakte, philosophische Qualität; sowie es – auch – Liebe wird, muss es begrenzt sein so wie im „richtigen Leben“ auf der persönlich-privaten Ebene.
2 Er soll es zwar von einem Lehrer übernommen haben. Dann passt es sogar noch besser in den Erziehungskontext, den ich meine.
3 Erstaunlicherweise hindert das die übernationalen Linken, die es bis hinein in die CDU gibt, aber nicht, sich national aufzubäumen gegen das, was die EU als „nachhaltige“, förderungswürdige Energie einstuft, nämlich auch die Atomkraft. Und auch bei anderen Lieblingsthemen der Linken wie z.B. die Unterstützung von Flüchtlingsbewegungen agiert Deutschland gern national, weit über „europäische“ Standards hinaus, was aber natürlich nicht zu einer besonderen Sogwirkung nach Deutschland führen würde. Da sind die „Linken“ wieder gar nicht im marxistischen Sinn links, denn dieser setzt als selbstverständlich voraus, dass das Materielle das Ideelle bestimmt.
4 Aber eigentlich muss das nichts zum Fürchten sein, wenn nicht rechtsextrem gemeint ist, da es in der Natur der Welt liegt, dass da, wo es ein „unten“ gibt, auch ein „oben“ geben muss, zum „hinten“ muss ein „vorne“ gehören, zum leichten etwas schweres, zum eckigen etwas rundes usw. Eigentlich müsste es also selbstverständlich sein, dass eine Gesellschaft, die linke Bestandteile hat, auch genauso rechte haben muss oder die Erde ist eine Halbscheibe, von der die rechte Seite abgeschnippelt wurde.
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